Oliver Zeyer, als Mitglied des Zentralvorstands der SSO arbeiten Sie seit mehreren Jahren in den internationalen zahnmedizinischen Gremien mit. Warum interessiert Sie diese Arbeit?
Einerseits finde ich es interessant, internationale Kontakte zu pflegen. Andererseits erlaubt uns diese Arbeit, über den eigenen Tellerrand zu blicken. Manche Länder, vor allem in Westeuropa, sind der Schweiz sehr ähnlich. Je weiter man nach Osten und in Richtung Zentralasien geht, umso grösser werden die Unterschiede. Die Probleme dort sind teilweise elementar.
Was bedeutet das?
Die zahnmedizinische Versorgung ist ungenügend. Das zeigt sich aktuell bei den Menschen aus der Ukraine, die in die Schweiz geflüchtet sind: Ihre Zahngesundheit ist deutlich schlechter als jene von Schweizer Patienten. Prophylaxe spielt dort kaum eine Rolle, und der Zuckerkonsum ist extrem hoch – sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen. Auch die Qualität der zahnmedizinischen Behandlungen ist nicht mit unserer zu vergleichen. Solche Probleme werden in den internationalen Gremien diskutiert.
Die SSO ist Mitglied in der FDI, in der ERO und im CED (siehe Box). Welches ist das wichtigste Gremium?
Der Council of European Dentists (CED) ist der wichtigste Partner. Dort wird die Gesundheitspolitik der Europäischen Union (EU) diskutiert, und es werden Motionen zuhanden der Europäischen Kommission erlassen. Das ist für uns relevant, weil die Schweiz alle Bestimmungen dieser Kommission übernimmt. Seit vier Jahren können Schweizer Vertreter – obwohl unser Land nicht Mitglieder der EU ist – auch in Arbeitsgruppen des CED mitmachen und abstimmen. Eine Beson derheit des CED ist: Jedes Land hat zwei Stimmen. Die kleine Schweiz hat bei Abstimmungen also dasselbe Gewicht wie Frankreich oder Deutschland. Die SSO kann mitreden und mitbestimmen – oder zumindest versuchen, politischen Einfluss zu nehmen. Auch in den Arbeitsgruppen der ERO sind wir gut vertreten. Jean-Philippe Haesler ist Vorsitzender der wichtigen Arbeitsgruppe zur Alterszahnmedizin. Diese erarbeitet zurzeit eine App für Pflegepersonal und Angehörige von pflegebedürftigen Menschen. Die App zeigt Schritt für Schritt, wie die Mund- und Zahnpflege abläuft. Sie könnte vielleicht auch in der Schweiz eingesetzt werden. Wenn man international zusammenarbeitet, muss man nicht mehr alles neu machen, sondern kann auch mal Nützliches einfach übernehmen.
Aufgrund des Coronavirus konnten die Sitzungen in den letzten Jahren nur noch virtuell stattfinden. Gibt es jetzt wieder Präsenzveranstaltungen?
Ja, und wir sind sehr froh darüber. Denn Politik wird nicht während der Plenarsitzungen gemacht – dort wird nur abgestimmt. Die wichtigen Arbeiten geschehen vor- und nachher: in den Arbeitsgruppen zusammenkommen, Projekte diskutieren, Verbündete suchen und Allianzen schmieden.
Der CED diskutierte in den vergangenen Jahren intensiv über das unterschiedliche Niveau der Ausbildung von Zahnärztinnen und Zahnärzten innerhalb der EU. Hat sich da etwas getan?
Es gibt in gewissen Ländern immer noch private Universitäten, die ein Zahnmedizinstudium anbieten, das weit unter dem Niveau der Schweizer Ausbildung liegt. Diese Universitäten suchen regelrecht nach Studentinnen und Studenten, die den Numerus Clausus in ihrem Land nicht geschafft haben oder aus anderen Gründen nicht zum Studium zugelassen wurden. Eine Studie hat gezeigt, dass über zehn Prozent der Absolventen dieser Universitäten während der Ausbildung nie einen Patienten behandelt haben. Trotzdem wird ihr Abschluss als Äquivalent zum Schweizer Master in Zahnmedizin akzeptiert. In den internationalen Gremien versuchen wir nun, entweder die Ausbildungsniveaus anzugleichen oder von diesen Zahnärztinnen und Zahnärzten eine ergänzende Ausbildung zu fordern. Letzteres ist leider extrem schwierig zu erreichen. Denn die bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU besagen, dass Abschlüsse aus EU-Ländern automatisch anerkannt werden.
Gibt es weitere Themen, die für die Schweizer Zahnärztinnen und Zahnärzte relevant sind?
Corporate Dentistry, also von Investoren finanzierte Zahnarztzentren, ist ein grosses Thema im CED und in der ERO. In den skandinavischen Ländern ist diese – aus unserer Sicht problematische – Entwicklung schon weit fortgeschritten: Zwischen 25 und 30 Prozent aller Praxen sind dort bereits von Investoren aufgekauft worden. Diese Tendenz sehen wir auch in der Schweiz.
Warum ist das ein Problem?
Die Käufer sind oftmals Private-Equity-Gesellschaften. Sie tätigen kurzfristige Investitionen von wenigen Jahren. In dieser Zeit zählt vor allem die Rendite, nicht das Patientenwohl – auch wenn die Investoren das niemals zugeben würden. Die Arbeitsbedingungen in diesen Zentren sind teilweise umsatzorientiert. In Deutschland konnte man zeigen, dass investoren-finanzierten Ketten mehr Implantate und Kronen setzen sowie weniger Prophylaxe machen als andere Praxen. Ein Negativbeispiel gab es auch in Spanien: Dort sind vor einigen Jahren zwei grosse Ketten Konkurs gegangen. Die Patienten verloren mitten in der Behandlung ihre Zahnärztin oder ihren Zahnarzt. Oder sie hatten eine Anzahlung gemacht, die Behandlung aber noch gar nicht begonnen. Die 1200 Angestellten hatten von heute auf morgen keine Arbeit mehr.
Was lässt sich dagegen unternehmen?
Die Entwicklung ist meiner Meinung nach nicht aufzuhalten. Aber wir können dafür sorgen, dass sie nicht aus dem Ruder läuft. Die SSO möchte deshalb erwirken, dass in jeder Praxis immer ein Zahnarzt anwesend sein muss, der die Aufsicht hat. Solche Forderungen besprechen wir an der jährlich stattfindenden Sitzung mit Vertretern des Bundesamts für Gesundheit – auch wenn wir leider nicht immer Gehör finden.
Die FDI und die WHO haben im Frühling 2022 eine globale Strategie für Mundgesundheit verabschiedet, die «Vision 2030». Was beinhaltet sie?
Die WHO hat erkannt, dass die zahnmedizinische Gesundheit und Prophylaxe für die Gesamtgesundheit wichtig sind. Bei uns stirbt heute kaum mehr jemand an einem Abszess im Mund. In ärmeren Ländern gibt es das leider immer noch. Grosse Gebiete der Welt sind zahnmedizinisch unterversorgt. In Afrika gibt es teilweise auf 100 000 Personen einen Zahnarzt. Vor einigen Jahren hat die World Dental Federation (FDI) den Vorschlag gemacht, in diesen Ländern zahnmedizinische Hilfskräfte auszubilden. Das sind Hebammen oder Krankenpfleger, die auch zahnmedizinische Behandlungen durchführen dürfen. Ich kann das Anliegen nachvollziehen, aber für die weiter entwickelten Staaten ist das kein gutes Konzept. Man befürchtete, dass das Zahnmedizinstudium abgeschafft wird, wenn quasi alle «ein bisschen Zahnmedizin machen» können. Zuletzt einigte man sich auf das Prinzip «Supervision yes, substitution no»: Unter Aufsicht einer Zahnärztin oder eines Zahnarztes kann Hilfspersonal gewisse Leistungen vornehmen, aber es ersetzt die Fachperson nicht.
Welche Rolle spielt die FDI beim internationalen Engagement der SSO?
Die FDI fördert heute vor allem Gesundheitsprojekte und die zahnmedizinische Ausbildung. Der Verband wird zu über 50 Prozent von der Dentalindustrie gesponsert, das finden wir heikel. Die ERO hingegen wird nur über Mitgliederbeiträge finanziert. So bleibt sie unabhängig, genau wie die SSO ja auch. Trotzdem nutzen wir die Kontakte innerhalb der FDI. Mitgliedstaaten wie Kanada, die USA und Japan haben ähnliche Probleme wie die Schweiz, zum Beispiel in der Alterszahnmedizin.
Ist die SSO Mitglied weiterer Gremien?
Wir sind Mitglied des Groupement des Associations Dentaires Francophones (Gadef), der Gruppierung der Verbände der französischsprechenden Nationen. SSO-Präsident Jean-Philippe Haesler wurde vor einigen Wochen zum Präsidenten des Gadef gewählt.
Was könnten wir uns von anderen Ländern abschauen?
Die zahnmedizinische Versorgung und die Ausbildung in der Schweiz sind hervorragend. Zum jetzigen Zeitpunkt schauen andere Länder eher auf die Schweiz als umgekehrt. Ich würde die Frage deshalb anders formulieren: Welche Fehler sehen wir, die wir nicht wiederholen dürfen? Zum Beispiel die Kassenmedizin in Deutschland: Zwar gibt es eine obligatorische Grundversicherung, die aber nur die nötigsten Leistungen übernimmt. Kieferorthopädie, Implantologie, Kronen-Brücken-Arbeiten oder Kronen werden längst nicht in jedem Fall bezahlt. Deshalb haben fast alle Deutschen eine Zusatzversicherung. Deren Anteil an den zahnmedizinischen Kosten ist mittlerweile gleich gross oder sogar grösser als jener der obligatorischen Versicherung. Und das System ist mit einem riesigen administrativen Aufwand verbunden. 30 Prozent der Arbeit in einer deutschen Zahnarztpraxis ist Administration. Diesen Fehler sollten wir in der Schweiz nicht machen. Vielmehr müssen wir unser gutes, freiheitliches System bewahren und weiterhin die Prophylaxe fördern – insbesondere im Hinblick darauf, dass die Bevölkerung zunehmend mit eigenen Zähnen altert. Das ist eine grosse Herausforderung, hier muss die SSO dranbleiben.