Was tun, wenn das Geld nicht reicht? Personen in wirtschaftlich bescheidenen Verhältnissen verzichten teilweise auf zahnmedizinische Behandlungen. Die SSO und die SSO Fribourg wollen das ändern. Im Rahmen des Pilotprojekts «Mundgesundheit für alle» startete im Juni eine Informationskampagne. SDJ sprach mit den Projektverantwortlichen Olivier Marmy, Mitglied des Zentralvorstands der SSO, und Philip Cantin, ehemaliger Präsident der SSO Fribourg.

Wie kam das Pilotprojekt «Mundgesundheit für alle» zustande?

Olivier Marmy: Die SSO beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit dem Problem, dass Menschen in wirtschaftlich bescheidenen Verhältnissen einen erschwerten Zugang zur zahnmedizinischen Versorgung haben. Vor allem, wenn sie ein Einkommen haben und deshalb keine Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen beziehen können. In den 1980er-Jahren scheiterte die Idee, eine Stiftung für diese Menschen zu gründen; einerseits, weil die Mittel fehlten, und andererseits, weil die SSO keine Legitimation hat zu entscheiden, wer unterstützt wird. Im Jahr 2013 befasste sich Zahninfo, die Patientenzeitschrift der SSO, erneut mit diesem Thema. Eine Telefonbefragung in mehreren Gemeinden ergab ein sehr heterogenes Bild: Manche Kantone unterstützen Menschen, die knapp keine Sozialhilfe erhalten, aber nicht alle. Und wir fanden gesetzliche Grundlagen dafür, dass auch Personen ohne Anspruch auf Sozialhilfe finanzielle Unterstützung für nötige Zahnbehandlungen beantragen können. Mitte der 2010er-Jahre gab es dann in mehreren französischsprachigen Kantonen politische Vorstösse für die Einführung einer obligatorischen Zahnversicherung. Wir waren überzeugt, dass das keine gute Lösung ist; es käme einer Verstaatlichung der Zahnmedizin gleich. Die SSO möchte den Menschen, die aus finanziellen Gründen auf Zahnbehandlungen verzichten, stattdessen auf anderem Weg helfen.

Welche Ziele verfolgt denn das Projekt?

Philip Cantin: Eine Analyse, die die SSO zusammen dem Gesundheitsökonomen Willy Oggier durchgeführt hat, zeigte folgendes Problem: Es gibt in der Schweiz Personen, die aus finanziellen Gründen auf nötige Zahnbehandlungen verzichten. Dies, obwohl eigentlich alle Menschen in der Schweiz Zugang zur zahnmedizinischen Grundversorgung haben sollten. Bestehende finanzielle Hilfsangebote und ihr Recht auf eine zahnmedizinische Grundversorgung kennen sie häufig nicht. Zudem haben wir erfahren, dass genau diese Bevölkerungsgruppe wenig darüber weiss, dass eine gute Mundhygiene teure Zahnbehandlungen verhindern kann. Hier setzt das Projekt «Mundgesundheit für alle» an. Wir informieren Personen in wirtschaftlich bescheidenen Verhältnissen über Mundhygiene und Hilfsangebote. Zudem richten wir zusammen mit Caritas Fribourg konkrete Hilfe aus, um das soziale Netz für armutsbetroffene Personen zu verfeinern.

Wie sieht diese Zusammenarbeit mit Caritas aus?

PC: Caritas Fribourg hat die Mittel, um zu entscheiden, welche Menschen aufgrund ihrer finanziellen Situation Unterstützung brauchen. Die SSO hat dazu keine Legitimation. Wer die Kriterien erfüllt, kann von unserem Label «Caritas SSO» profitieren und sich von einem SSO-Zahnarzt zum Sozialtarif behandeln lassen – gemäss den Empfehlungen der Vereinigung der Kantonszahnärztinnen und Kantonszahnärzte. Ausserdem stellt die SSO Fribourg einen Vertrauenszahnarzt. Dieser beurteilt, ob eine geplante Zahnbehandlung zweckmässig und wirtschaftlich ist. Ich werde diese Aufgabe vorerst übernehmen.

Werden sich alle SSO-Zahnärztinnen und -Zahnärzte im Kanton beteiligen?

PC: An der Generalversammlung der SSO Fribourg haben wir über diese Frage diskutiert. Erfreulicherweise hat sich kein Mitglied dagegen ausgesprochen, die betroffenen Patientinnen und Patienten zum Sozialtarif zu behandeln.

Warum wird das Pilotprojekt im Kanton Fribourg lanciert?

OM: Es war von Anfang an klar, dass wir dieses Pilotprojekt auf der Ebene einer Sektion umsetzen sollten. Also suchten wir einen zweisprachigen Kanton, der nicht von den politischen Vorstössen für eine obligatorische Zahnversicherung betroffen ist. Wir möchten diesbezüglich «auf neutralem Boden» agieren. Ausserdem suchten wir eine Sektion, die gut mit den kantonalen Behörden zusammenarbeitet. All das traf auf die SSO Fribourg unter der Präsidentschaft von Philip Cantin zu.

Welche Zielgruppen sprechen Sie an?

PC: Personen, die armutsbetroffen oder armutsgefährdet sind. Die meisten beziehen Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen. Aber wir richten uns eben auch an jene Menschen, die ein Einkommen haben und trotzdem kaum über die Runden kommen. Sie fallen durch die Maschen unseres Sozialstaats. Schätzungen zufolge haben 99 Prozent der Menschen, die von Caritas Fribourg unterstützt werden, keine finanziellen Reserven für einen allfälligen Zahnarztbesuch.

Über welche Kanäle wollen Sie diese Menschen erreichen?

PC: Das Projekt ist Ende Juni mit einer Medienkonferenz in Fribourg gestartet. Die Informationen über Prophylaxe und Unterstützungsangebote werden vor allem über Social Media verbreitet. Dort können wir die entsprechende Bevölkerungsgruppe gezielt ansprechen. Zudem haben wir Broschüren erstellt. Diese werden von Organisationen wie Caritas und Pro Infirmis, aber auch in Schulen, Sportvereinen oder von der Direktion für Gesundheit und Soziales des Kantons abgegeben. Alle Informationen sind auf Deutsch und Französisch vorhanden.

OM: Fachleute haben uns auf eine Schwierigkeit aufmerksam gemacht: Es gibt auch in der Schweiz Menschen, die geschriebene Texte nicht oder nur schwer lesen und verstehen können. Erschwerend kommt hinzu, dass ein beträchtlicher Teil unserer Zielgruppe einen Migrationshintergrund hat. Wir setzen deshalb auf Einfache Sprache. Das ist eine vereinfachte Version der Standardsprache mit kurzen Sätzen, vielen Beispielen und wenig Fremdwörtern.

Welche Rolle haben die Projektpartner?

PC: Wie erwähnt vergibt Caritas Fribourg das Label «Caritas SSO» und
entscheidet, wer eine Zahnbehandlung zum Sozialtarif in Anspruch nehmen kann. Der zweite Partner ist die Direktion für Gesundheit und Soziales des Kantons Fribourg. Sie unterstützt das Pilotprojekt finanziell.

OM: Es war uns wichtig, bei diesem Pilotprojekt mit glaubwürdigen und erfahrenen Organisationen zusammenzuarbeiten, von ihnen zu lernen und auch Kritik und Ratschläge entgegenzunehmen. Deshalb schätzen wir die Unterstützung der beiden Partner sehr.

Sie beide engagieren sich stark in diesem Projekt, und Sie haben dabei sicher viel über die Herausforderungen erfahren, mit denen armutsbetroffene Menschen konfrontiert sind. Hat Sie das berührt?

OM: Ja, dieses Problem bewegt mich schon seit Langem. Meine Rolle als Gesundheitsfachperson beinhaltet auch eine soziale Verantwortung. Unser liberales System der Schweizer Zahnmedizin ist hervorragend, ich würde es jederzeit verteidigen. Aber es ist nicht perfekt. Es gibt leider Menschen, die durch die Maschen fallen. Diese Situation können wir noch verbessern. Ich bin mir auch absolut sicher, dass die meisten Zahnärztinnen und Zahnärzte sich dieser Verantwortung bewusst sind und sie tagtäglich wahrnehmen; etwa indem sie ihren Patientinnen und Patienten bei Bedarf kostengünstigere Behandlungen oder alternative Zahlungsmodelle vorschlagen.

PC: Auch mich hat die Arbeit an diesem Projekt enorm bewegt. Mir ist bewusst, dass jeder vorübergehend oder auch längerfristig in eine finanziell schwierige Situation geraten kann. Im Kanton Fribourg hätten 5000 Personen zwar Anspruch auf Sozialhilfe, sie beantragen sie aber nicht. Weitere 25 000 Personen sind armutsgefährdet. Es ist unsere Aufgabe als Zahnärztinnen und Zahnärzte, diesen Menschen zu helfen.

Das Pilotprojekt ist auf zwei Jahre ausgelegt. Was geschieht danach?

OM: Nach zwei Jahren wird das Projekt ausgewertet. Die quantitative Evaluation stützt sich auf die Daten der Social-Media- Kampagne. Prof. Martin Schimmel von den zahnmedizinischen Kliniken der Universität Bern wird zudem eine qualitative Evaluation des Pilotprojekts vornehmen. Wenn unsere Massnahmen Erfolg zeigen, möchten wir sie in anderen Kantonen oder sogar in der ganzen Schweiz umsetzen.

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