Kinder mit Trisomie 21, Autismus-Spektrum- Störungen oder anderen mentalen und physischen Beeinträchtigungen haben spezielle Bedürfnisse, wenn sie beim Zahnarzt sind. «Zwar gibt es Leitlinien für die Behandlung von Kindern mit Grunderkrankungen oder Beeinträchtigungen», erklärt die Kinder- und Jugendzahnärztin Juliane Keller-Erb, die langjährige Erfahrung mit diesen Patienten hat. «Aber es gibt so viele Behinderungen, Syndrome und Beeinträchtigungen, dass man für jeden Patienten ein ganz eigenes Behandlungskonzept erarbeiten muss. Dazu braucht es in erster Linie Erfahrung und Wissen über die einzelnen Erkrankungsformen.»

Bereichernd, aber anspruchsvoll

Juliane Keller-Erb arbeitete nach dem Studium in einer allgemeinzahnärztlichen Praxis auf dem Land. «Dort habe ich ziemlich schnell gemerkt, dass ich mich gut mit Kindern verstehe, mich in sie hineinversetzen und auf Augenhöhe mit ihnen kommunizieren kann. Es macht einfach Spass, Kinder während ihrer Entwicklung zu begleiten und ihnen zu helfen, Bewältigungsstrategien für die zahnärztliche Behandlung und letztendlich auch für den Alltag zu erarbeiten. Die kinderzahnärztliche Betreuung ist sehr abwechslungsreich und bietet ein breites Spektrum, was ich sehr spannend finde. Daher wollte ich mein Wissen erweitern und mich auf diesem Gebiet weiterbilden, denn im Studium kommt die Kinderzahnmedizin meist zu kurz.» Sie wechselte zum Schulzahnärztlichen Dienst der Stadt Zürich und von dort aus in die Abteilung für Kieferorthopädie und Kinderzahnmedizin am Zentrum für Zahnmedizin der Universität Zürich und absolvierte hier ein mehrjähriges Nachdiplomstudium. Während der Assistenzzeit und ihrer langjährigen Anstellung als Oberärztin am Zentrum für Zahnmedizin machte sie sich parallel mit ihrer eigenen Praxis für Kinder- und Jugendzahnmedizin in Zürich selbstständig.

Ihre Arbeit als Kinder- und Jugendzahnärztin sei sehr schön, sagt sie – obwohl die Behandlung von Kindern generell und im Speziellen von beeinträchtigten Kindern Zahnärztinnen und Zahnärzten einiges abverlange. In einer Fachpraxis wie jener von Juliane Keller- Erb nimmt sich das ganze Team viel Zeit für die Kinder – und auch für deren Eltern. Mit der Zeit entstehe ein vertrauensvolles Verhältnis zur Familie. «Eine langfristige zahnmedizinische Betreuung ist ein Gewinn für alle Beteiligten», erklärt sie. «Mein ältester Patient ist 27 Jahre alt, und ich betreue ihn schon seit mehr als zehn Jahren. Das ist deswegen so besonders für meine Praxis, weil Jugendliche eigentlich mit ca. 16 bis 17 Jahren langsam zum Familienzahnarzt wechseln. Bei unseren besonderen Patienten machen wir aber sehr gerne Ausnahmen.»

Stimme, Tonlage, Berührungen

Die bekannteste Beeinträchtigung ist wahrscheinlich die Trisomie 21. Daneben sind Erkrankungen aus dem Autismus-Spektrum unterschiedlicher Schweregrade ebenfalls recht häufig. Aber auch mit anderen Erkrankungen, z. B. Fehlbildungssyndrome, auch Dysmorphiesyndrome genannt, werden Zahnärzte häufig konfrontiert. Dabei handelt es sich um eine wiederholt vorkommende Kombination verschiedener angeborener Fehlbildungen, die mehrere Organsysteme betreffen. Auch Zerebralparesen, Bewegungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten Epilepsie und geistige Beeinträchtigungen können vorkommen, um nur einige wenige Erkrankungsformen zu nennen.

Die Form der Beeinträchtigung der Patienten wirkt sich nicht zuletzt wesentlich auf die verbale Kommunikation aus. «Ich spreche mit einem beeinträchtigten Kind jedoch plus/minus gleich wie mit jedem anderen Kind in der Praxis, egal wie schwer die Beeinträchtigung ist», erzählt Juliane Keller-Erb. «Denn, auch wenn ein Patient meine Worte nicht erfassen kann, so kann er trotzdem meine Stimme hören. Mit der Tonlage und der Stimme möchte ich vermitteln, dass ich nur Gutes im Sinn habe und helfen möchte.»

Patienten mit einer Mehrfachbehinderung reagieren zudem oft sehr fein auf sanfte Berührungen an den Händen oder an der Wange. Am schwierigsten sei die Kommunikation mit autistischen Kindern, sagt die Kinderzahnärztin. «Sie reagieren häufig nicht oder nicht wie erwartet auf soziale Interaktionen; zu viel Sprechen kann sie überfordern, Berührungen werden oft nicht akzeptiert, und Blickkontakte können nicht richtig gedeutet werden, was auch aggressives Verhalten auslösen kann. Bei diesen Kindern gibt es einfach unheimlich viele Varianten. Hier muss man sehr gut mit den Eltern zusammenarbeiten, um die Reaktionen der Kinder zu verstehen und zu wissen, was akzeptiert werden könnte und was nicht.»

Wenn ein Kind nicht auf Bitten oder Anweisungen reagieren kann, nutzt die Zahnärztin manchmal Hilfsmittel, um eine Mundöffnung zu stabilisieren, etwa weiche Gummispatel. Auch die Eltern helfen zuweilen, damit der Patient den Mund öffnen kann. «In der Regel kommen wir zu unserem Befund», sagt Juliane Keller-Erb. «Wenn eine Patientin oder ein Patient nicht kooperieren kann – und das kommt leider häufig vor –, müssen wir uns anpassen. Dann machen wir die Kontrolle eben nicht im Behandlungsstuhl, sondern vielleicht stehend im Wartezimmer oder sogar gehend vor der Praxistür.»

Den Zahnwechsel im Auge behalten

Trisomie-Patienten z.B. haben einen verminderten Muskeltonus der perioralen Muskulatur, die Zunge liegt häufig weiter vorne. Durch die Zungenhaltung, das Zusammenspiel der Muskulatur und eine Mittelgesichtshypoplasie zeigt sich sehr häufig transversal und sagittal ein Kreuzbiss. Abweichungen in der Zahnzahl und -form kommen ebenfalls häufig bei ihnen vor.

Bei Patienten mit anderen Erkrankungsbildern, z.B. Patienten mit Zerebralparesen, liegt häufig ein eher starker Muskeltonus im orofazialen Bereich vor, was u.a. das Putzen stark erschweren kann, da alles sehr stark angespannt ist. Zahnfehlstellungen mit einer weit vorstehenden Oberkieferfront und einer Rücklage des Unterkiefers kommen auch sehr häufig bei beeinträchtigten Kindern vor. Dies, ein fehlender Lippenschluss und mögliche Beeinträchtigungen beim Schlucken können ein unaufhörliches Speicheln aus dem Mund nach sich ziehen. Vermindertes Schlucken, vermehrter Speichel im Mund und die Tatsache, dass manche Kinder sich nicht regelrecht oral ernähren, kann zu vermehrter Zahnsteinbildung, auch an untypischen Stellen wie den Kauflächen, führen.

«Allgemein wichtig ist, den Zahnwechsel im Auge zu behalten», erklärt Juliane Keller-Erb. «Durchbruchsbehinderungen durch retinierte Zähne, Nichtanlagen oder persistierende Milchzähne sind sehr häufig. Der Zahnwechsel läuft bei Betroffenen häufig weniger unproblematisch ab als bei gesunden Kindern.»

Narkosebehandlungen sind ein wichtiges Mittel, um den Kindern zu helfen

In der Praxis von Juliane Keller-Erb gilt: Beeinträchtige Patientinnen und Patienten sollen gleich gut versorgt werden wie jedes andere Kind. Das bedeutet, dass bei betroffenen Kindern allenfalls häufiger Narkosen gemacht werden müssen als bei gesunden Kindern, da oftmals keine ausreichende Mitarbeit für invasive Eingriffe erwartet werden kann.

«Zugeständnisse müssen wir dann machen, wenn Kinder so schwere Erkrankungsformen aufweisen, dass eine Narkose mit einem hohen gesundheitlichen Risiko verbunden ist und diese möglichst vermieden werden sollten. Dann müssen auch wir Kompromisse in der zahnärztlichen Behandlung eingehen und akzeptieren, dass wir nicht so helfen können, wie wir das gerne würden. Glücklicherweise sind solch schwere Erkrankungen nicht sehr häufig, und wir können den Kindern in einer Narkose sehr gut helfen.»

Juliane Keller-Erb wünscht sich, dass Eltern, insbesondere von beeinträchtigten Kindern, für die Primärprophylaxe vermehrt und möglichst früh an zahnmedizinische Fachpersonen überwiesen werden. «Denn auch bei diesen Kindern ist die Zahngesundheit nun mal essenziell und kann dabei helfen, die Lebensqualität deutlich zu erhöhen.»