Kinder mit von Karies schwarzen Milchzähnen: Dieser Anblick gehörte in den 50er-Jahren für Schweizer Zahnärztinnen und Zahnärzte zum Alltag. Auch für Thomas Marthaler. Der damals rund 25-jährige Zahnmediziner arbeitete in der väterlichen Zahnarztpraxis in Zürich. Einem kleinen Kind den Backenzahn zu ziehen, unter grössten Schwierigkeiten, manchmal ohne verhindern zu können, dass das Kind grosse Schmerzen spürte: Das tat dem frischgebackenen Zahnarzt im Herzen weh. Zumal er wusste, dass das Ziehen gewisser Milchzähne die Weiterentwicklung des Gebisses beeinflussen und das Kind die Folgen sein Leben lang spüren würde. Und das, obwohl die Karies hätte verhindert werden können. Durch Fluoridanwendung und vor allem: regelmässige und korrekte Zahnpflege.

Ein Leben für die Kariesprophylaxe

Das war in den 50er-Jahren bereits bekannt. Und trotzdem fühlte sich niemand dafür zuständig, weder Zahnärztinnen und Zahnärzte noch Lehrpersonen noch Behörden, der Flut an Karies bei Kindern und Erwachsenen Einhalt zu gebieten. Schulkinder entwickelten zu jener Zeit im Durschnitt vier neue Löcher pro Jahr. 1960 fiel deshalb Thomas Marthalers Entscheidung, die väterliche Praxis nicht zu übernehmen und sich stattdessen am Institut für Präventivmedizin der Universität Zürich ganz der Kariesprophylaxe zu widmen.

«Er hat nicht viel gesagt, aber wenn, dann war das Gesagte extrem überlegt und sehr präzise.» Das sagt Ulrich Saxer. Er war in den 60er-Jahren Student bei Marthaler, habilitierte bei ihm und führte danach mit ihm zahlreiche Forschungsarbeiten durch. Er ist ein Weggefährte und ebenfalls Präventivzahnmediziner. Wenn er an diese Jahre zurückdenkt, denkt er an Thomas Marthaler, wie er in seinem Büro auf und ab spazierte und dabei seiner Assistentin ganze Forschungsarbeiten diktierte. «Er hatte alles im Kopf, alle Zahlen.» Mit seiner Forschung würde Marthaler die Kariesprophylaxe komplett revolutionieren.

Das Experiment

Um zu beweisen, dass Prophylaxe die Karies fast vollständig zum Verschwinden bringen kann, startete er 1963 ein Experiment mit 20 Zürcher Gemeinden. Das war die Geburtsstunde der Schulzahnpflege und das erste Mal, dass Schulzahnpflege-Instruktorinnen (SZPI) zum Zug kamen. Dreimal im Jahr besuchten die ersten SZPI fortan die Klassen in den Gemeinden und führten Zahnputzinstruktionen mit Fluorid durch. Hinzu kamen dreimal im Jahr Instruktionsstunden durch die Lehrpersonen. Alle vier Jahre wurden die Zähne der Kinder zahnärztlich untersucht und Daten zum Kariesbefall erhoben. So wurde die Wirkung des Prophylaxeprogramms beobachtet – und das über 40 Jahre lang bis zum Jahr 2009.

Dass die Kariesprophylaxe funktionierte, zeigte sich sehr rasch und zwar bereits nach den ersten Untersuchungen 1967/1968: Um bis zu einem Drittel hatte sich das Kariesvorkommen in jenen Gemeinden verringert, die auf SZPI setzten. Gemeinden, die das Programm nicht mitmachten, verzeichneten keinen Rückgang. Bei der zweiten Kontrolle betrug die Reduktion gegenüber der Ausgangslage bereits 50 Prozent. 2009 war Karies mit einer Reduktion von 96 Pro zent fast ganz verschwunden. Der Zürcher Erfolg in der Kariesprophylaxe machte die Runde unter den Kantonen, und nach und nach wurde die Schulzahnpflege schweizweit eingeführt.

Initiant der Salzfluoridierung

Dieses Prophylaxe-Experiment sowie seine weitere Forschung machten Thomas Marthaler zu einem der bekanntesten und kompetentesten Experten in dem Bereich. Er erwirkte noch zahlreiche weitere Verbesserungen: Er war Mitglied der Schweizerischen Fluorund Jod-Kommission und setzte die Einführung der Salzfluoridierung in der Schweiz durch. Dasselbe gelang ihm als WHO-Berater auch in Europa, Mittelund Südamerika. Kochsalz wird heute standardmässig Fluorid beigesetzt, denn eine regelmässige Fluoridierung der Zähne schützt sie vor Karies. Marthaler gehörte zu den Mitbegründern der ersten Dentalhygieneschule der Schweiz. Und vor allem: Er gründete 1987 die Stiftung für Schulzahnpflege-Instruktorinnen, um so die Ausbildung von SZPI für die ganze Deutschschweiz zu ermöglichen.

Es war an der DH-Schule, wo Bettina Richle, heutige Gesch.ftsführerin der Stiftung für Schulzahnpflege-Instruktorinnen, «Tomi» Marthaler Ende der 70er-Jahre kennenlernte. Damals wusste sie noch nicht, dass sie einst mit Marthaler eng zusammenarbeiten würde. «Wir DH-Schülerinnen haben damals verschiedene Vorlesungen an der Uni besucht, zusammen mit den Studierenden der Zahnmedizin», erinnert sich Richle. Und da stand plötzlich die Koryphäe der Kariesprophylaxe vor ihnen und unterrichtete sie: Thomas Marthaler. «Er war ein sehr bescheidener und wohlwollender Mensch», erinnert sich Richle.

Das Herz der Stiftung für SZPI

2002, als Richle in den Dienst der Stiftung für Schulzahnpflege-Instruktorinnen trat, traf sie Marthaler wieder. Von der Gründung 1987 bis 2007 war der Zahnmediziner Präsident der Stiftung. Den präventivzahnmedizinischen Unterricht der SZPI übernahm er stets selbst. «Was ihn ausgezeichnet hat, war seine Wertschätzung gegenüber den SZPI, für die wertvolle Arbeit, die sie leisten. Er hat das sehr hochgehalten», sagt Richle. Eine gute Zahngesundheit für die breite Bevölkerung, das war sein Ziel, das er hartnäckig verfolgte. «Er war ein sehr sozialer Mensch, aber auch ein talentierter Musiker.» Geht es um Thomas Marthaler, kommen alte Weggefährten früher oder später immer auf seine Leidenschaft zu sprechen: das Musizieren. Auch Bettina Richle erinnert sich: «Früher hatte man immer einen gemeinsamen Zmittag an den SZPI-Schulungen. Bei Dessert und Kafi hat er dann sein Schwyzerörgeli hervorgenommen und gespielt.»

Tomi der Prophylaxepionier, Tomi der Zahnmediziner, Tomi der Musiker. Im Alter von 91 Jahren ist Thomas Marthaler im Jahr 2020 verstorben. Sein Erbe aber prägt die Schweizer Bevölkerung – und vor allem deren Mundgesundheit – bis heute und darüber hinaus. Bettina Richle resümiert: «Es hat jemanden gebraucht wie ihn, der daran geglaubt hat, dass man mit niederschwelligen Massnahmen in der Kariesprophylaxe so viel erreichen kann.»

Dieser Artikel ist ein Nachdruck aus dem Bulletin für Schulzahnpflege Nr. 154.