Fällt der Begriff Digital Health, denken die meisten Menschen an Virtual-Reality-(VR-)Brillen, an Roboter und futuristisches Design. Die Realität sieht anders aus. Das zeigte sich in der Coronapandemie. Für die allermeisten Menschen bedeutet Digitalisierung immer noch Zoom-Meetings und vertonte Online-Präsentationen statt Präsenzveranstaltungen.
Am zweiten Schweizer Kongress für Telenotfallmedizin und Digital Health am Inselspital in Bern präsentierten Forscherinnen und Forscher digitale Anwendungen, die drängende Probleme lösen und die Medizin entscheidend weiterentwickeln könnten. Es wurde aber auch deutlich, wo die Grenzen der digitalisierten Medizin liegen und welche neuen Probleme geschaffen werden.
Hilfe bei der Triage
Wenn nach einem grossen Unfall viele Verletzte gleichzeitig medizinisch versorgt werden müssen, ist das Spital kurzfristig überlastet. Abhilfe schaffen könnte die Reversed Triage, die umgekehrte Triage. Das bedeutet: Die am wenigsten verletzten Patienten werden zuerst behandelt und entlassen. Dadurch schafft man Platz für die schweren Fälle. Das Problem: Triagieren ist sehr zeit- und arbeitsaufwändig. Doch die heute verfügbaren Datenmanagementsysteme beschleunigen den Prozess.
Prof. Marc Sabbe und sein Mitarbeiter Gwen Pollaris vom Universitätsspital Leuven in Belgien haben ein entsprechendes IT-Tool entwickelt. Es bestimmt jene Patienten, die sicher nicht in Kürze entlassen werden. Getroffen wird die Auswahl aufgrund von 28 klinischen Parametern wie Sauerstoffkonsum oder erhaltenen Bluttransfusionen.
Was würde das im Ernstfall bedeuten? Die Studie der Belgier ist ermutigend: Im Vergleich zur üblichen Triage werden mit dem IT-Tool fast doppelt so viele Patienten für eine frühzeitige Entlassung qualifiziert. Ausserdem reduziert sich die Zahl jener Patienten, die für eine Frühentlassung evaluiert werden müssen, um rund zwei Drittel. Durch diese beiden Effekte werden Ressourcen für die Schwerverletzten frei.
Wearables werden die Medizin verändern
Wearables sind tragbare Geräte, die Körperfunktionen aufzeichnen und analysieren. Gemäss Prof. Mihai Adrian Ionescu von der EPFL ist dies «ein Markt, der explodiert». Er ist überzeugt: Könnte man die durch Wearables gesammelten Daten medizinisch nutzen, würde dies die Zukunft der Medizin radikal verändern. Das Stresshormon Cortisol beispielsweise lässt sich recht einfach im menschlichen Schweiss nachweisen. Durch ein stetiges Tracking des Hormons könnte man auf regelmässige Blutentnahmen verzichten. Vielleicht liessen sich sogar Burn-out-Depressionen vermeiden.
Wearables wie Schrittzähler oder Schlaf-Tracker sind heute bereits weitverbreitet. Um die Geräte für medizinische Zwecke zu nutzen, muss aber die Qualität der Daten gesichert sein. Das stellt hohe Ansprüche an die Entwickler. Ionescu und sein Team rechnen deshalb damit, ihre Tracker erst in einigen Jahren einsetzen zu können.
Die künstliche Intelligenz hat nie das letzte Wort
Nebst den hohen Anforderungen an die Datenqualität stellt sich auch die Frage nach der Verantwortung: Wer haftet, wenn ein digitales Hilfssystem oder eine künstliche Intelligenz an einer medizinischen Entscheidung beteiligt ist? Die Antwort gab Prof. Roland Wiest vom Universitätsinstitut für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie am Inselspital Bern: Die letzte Verantwortung liegt heute immer bei einem Arzt. Der Hersteller einer künstlichen Intelligenz könnte allenfalls zur Verantwortung gezogen werden, wenn ein schwerer Systemfehler vorliegt. Diese Frage sei aber noch nicht endgültig geklärt, so Roland Wiest. Entsprechende Gesetze existieren noch nicht.
Lernen in virtuellen Welten
Weniger problematisch ist der Einsatz von digitalen Technologien in der Aus- und Weiterbildung. Sogenannte Extended-Reality-(XR-)Technologien könnten die ressourcenintensive Ausbildung von Fachpersonen beschleunigen und somit den drohenden Personalmangel entschärfen. Dies sagte der Informatikprofessor George Papagiannakis vom Centre Universitaire d’informatique in Genf. Die Immersion, also der Effekt, dass man die virtuelle Umgebung als real empfindet, sei heute so gut, dass der Körper automatisch auf die virtuellen Reize reagiert. Dadurch entstünden neue Verbindungen im Gehirn – die Studierenden lernen.
Die XR-Technologien sind jedoch nicht für alle Unterrichtsthemen geeignet. Denn die haptische Erfahrung kann noch nicht simuliert werden. Virtuelle Realität funktioniere gut für die Einübung von chirurgischen oder pflegerischen Tätigkeiten oder für die Erfahrung einer bestimmten Umgebung. Papagiannakis ist Mitbegründer des Unternehmens Orama VR, das virtuelle Trainingsmodule für die medizinische Ausbildung produziert. Die Forschungsgruppe für Telenotfallmedizin, Digital Health und klinische Simulation am Inselspital Bern hat zusammen mit Orama VR ein solches Modul entwickelt.
Spielen motiviert
Wie motiviert man Studierende zum Lernen? Eine Möglichkeit ist Gamification, der Einsatz von Spielen und Spielelementen im Unterricht. Daniel Tolks vom Institut für Didaktik und Ausbildungsforschung in der Medizin der Ludwig-Maximilians-Universität München erklärte, wie dieser Effekt funktioniert. Das gemeinsame Spielen befriedigt psychische Grundbedürfnisse: Die Schülerinnen und Schüler erleben ihre Kompetenz, Autonomie und soziale Zugehörigkeit und sind entsprechend motiviert.
Typische Elemente von Gamification im Unterricht sind das Sammeln von Punkten, Teamarbeit, Storytelling oder ein Belohnungssystem für erbrachte Leistungen. Ein gutes Beispiel für ein Serious Game, das direkt Themen der medizinischen Ausbildung aufgreift, ist EMERGE. Hier trainiert die angehende Ärzteschaft in einer virtuellen 3-D-Notaufnahmesimulation am Computerbildschirm, wie in komplexen Situationen zu reagieren ist.
Gamification und der Einsatz von sogenannten Serious Games im Unterricht hätten grosses Potenzial, meint Daniel Tolks. Insbesondere bei komplexen Inhalten, mit denen man sich über längere Zeit beschäftigen muss.
Dieser Artikel entstand im Rahmen einer Kooperation zwischen SDJ und doc.be, der Mitgliederzeitschrift der Ärztegesellschaft des Kantons Bern.