Daniel Koch, Mitte März rief der Bundesrat die ausserordentliche Lage aus. War dieser Schritt unumgänglich?
Ja, aus verschiedenen Gründen. Zwar hätte man im medizinischen Bereich fast alle Massnahmen ohne diesen Schritt umsetzen können. Für die Begleitmassnahmen im finanziellen Bereich hingegen und für die Massnahmen an der Landesgrenze waren Notrechte unumgänglich.
Mit den Pandemieplänen von Bund und Kantonen und dem Epidemiengesetz waren Grundlagen für eine solche Krise vorhanden. Vieles wurde aber nicht so umgesetzt oder kontrolliert wie vorgeschrieben. Müssen die Kompetenzen neu organisiert werden?
Nein. Die Kompetenzverteilung ist im Epidemiengesetz ziemlich gut geregelt. Das hat auch funktioniert. Aber der Pandemieplan und die Pandemievorbereitungen sind auf eine Grippepandemie ausgerichtet. Das Coronavirus hat ganz andere Eigenschaften. Der Pandemieplan ist lediglich ein Vorbereitungstool. Er zeigt, woran man denken und was man tun sollte. Zuletzt muss man sich aber an die Realität des jeweiligen Virus anpassen. Das ist uns nicht schlecht gelungen. Kein Land der Welt kann sich auf eine Pandemie so vorbereiten, dass eine Krise vermieden wird.
Zu Beginn der Pandemie relativierten die Behörden die Bedeutung der Schutzmaske. Hat sich Ihre Haltung inzwischen geändert?
Nein, ich sehe das immer noch so. Man muss einfach wissen, wo Schutzmasken nützlich sind und wo nicht. Medizinische Fachpersonen, auch Zahnärzte, arbeiten seit Jahren damit. Sie wissen: In erster Linie geht es darum, den Patienten zu schützen; erst in zweiter Linie um den Selbstschutz. Die Masken sind aber beliebt, weil sie einen sichtbaren Schutz bieten. Man fühlt sich geschützt.
Demnach haben Schutzmasken auch einen psychologischen Effekt?
Jede Massnahme hat eine Botschaft. Wenn man Bars schliesst, lautet die Botschaft: In Bars kann man sich anstecken. Wenn Bars wieder öffnen, bedeutet das aber nicht, dass alles wieder gut ist, sondern dass es trotzdem Schutzmassnahmen braucht. Wir haben bewusst zu Beginn der Pandemie informiert, dass Abstandhalten und Handhygiene die wichtigsten Massnahmen sind. Die Schutzmaske folgt an dritter Stelle. Im öffentlichen Verkehr nützen Masken, die immer wieder an- und ausgezogen werden, erst dann, wenn die Handhygiene ausreichend ist.
Wären Dispenser in öffentlichen Verkehrsmitteln wirksamer als Schutzmasken?
Aus meiner Sicht wäre das eine gute Massnahme.
Die Kampagne des BAG sprach zu Beginn vor allem die Risikogruppen an. Patienten waren verunsichert, sodass sie auf nötige Behandlungen verzichteten. War die Kommunikation zu beängstigend?
Nein, das glaube ich nicht. Es war absolut notwendig, nur noch zwingende Eingriffe vorzunehmen. Denn gerade in Spitälern und Arztpraxen sind viele Risikopatienten anzutreffen. Wir wollten unbedingt verhindern, dass sich die innerhalb der Risikogruppe stark verbreitet. Das ist uns ziemlich gut gelungen. Selbstverständlich zieht das auch unerwünschte Effekte nach sich. Das ist kaum zu vermeiden. Den Vorwurf, dass man in Schweizer Spitälern Überkapazitäten für Covid-Patienten geschaffen hat, halte ich für nicht gerechtfertigt. Ich bin eher vom Gegenteil beeindruckt: dass die Spitäler in kürzester Zeit diese Kapazität bereitstellen konnten. Universitätsspitäler sind Grossbetriebe. Diese innerhalb von Tagen umzustellen, ist eine unglaubliche organisatorische und personelle Leistung.
Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit der SSO während des Lockdowns erlebt?
Sehr gut. Sowohl die SSO als auch die Vereinigung der Kantonszahnärztinnen und Kantonszahnärzte der Schweiz haben frühzeitig Kontakt aufgenommen. Wir spürten eine grosse Bereitschaft zur Mithilfe. Bund und Behörden haben die Berufsverbände bei der Erstellung der Schutzkonzepte sehr stark eingebunden.
Der Politologe Michael Hermann sieht darin ein Zeichen für das Erstarken der Verbände. Teilen Sie diese Meinung?
Ich glaube nicht, dass es ein Erstarken braucht. In der Schweiz nahmen die Verbände – gerade im medizinischen Bereich – schon immer eine sehr wichtige Funktion und eine starke Position ein. Sie arbeiten Ethik- und Behandlungsrichtlinien aus. Der Bund regelt nur einen beschränkten Bereich, beispielsweise den Strahlenschutz bei medizinischen Röntgenanlagen. Das ist das Schweizer System, und es hat sich bewährt.
Was raten Sie der SSO mit Blick auf die weitere Entwicklung der Pandemie?
Wir müssen uns bewusst sein, dass das Problem noch nicht gelöst ist. Die SSO spielt wie alle anderen ihre Rolle in ihrem Bereich. Einen Rat möchte ich geben: Die SSO-Mitglieder sollen als Vermittler gegenüber der Bevölkerung möglichst à jour sein, damit sie die Patienten aufklären können. In der Schweiz informieren sich die Menschen häufig bei ihrem Arzt oder ihrer Zahnärztin. Es ist also deren Aufgabe, richtig informiert zu sein und wichtige Botschaften weiterzugeben. Selbstverständlich ist das mit einem gewissen Aufwand verbunden. Aber ich glaube, es lohnt sich.
In Ihrem Vortrag an der SSO Dental Conference haben Sie die Bedeutung des Contact Tracing hervorgehoben. Das ist sehr aufwändig und sehr teuer. Gibt es keine Alternative?
Nein, ins Contact Tracing und in die Tests kann man gar nicht genug investieren. Eine zweite Welle würde sehr hohe Kosten verursachen. Das Contact Tracing erhöht die Chancen, dass es nicht so weit kommt.
Was würden Sie rückblickend anders machen?
Zu Beginn haben wir es verpasst, die Gefahr von Reisen in asiatische Länder zu thematisieren. Im Grossen und Ganzen sehe ich für die erste Welle aber nicht viel, das ich anders machen würde.
Sie sind mittlerweile ein prominentes Gesicht. Wie gehen Sie mit dieser Bekanntheit um?
Bisher habe ich ausschliesslich positive Erfahrungen gemacht. Die Schweizerinnen und Schweizer sind sehr nett. Langsam gewöhne ich mich daran.