Mehr als 100 Gramm – so viel Zucker essen Schweizerinnen und Schweizer im Durchschnitt jeden Tag. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt dagegen maximal 50 Gramm Zucker pro Tag, idealerweise jedoch weniger als 25 Gramm. «Als Gesundheitspolitikerin bin ich über diese Zahlen alarmiert», sagt die Grüne-Nationalrätin Manuela Weichelt (ZG). Deshalb richtet sie jetzt zusammen mit anderen Fachleuten und Organisationeneinen Appell an die Politik. Mit dem sogenannten «Zuckermanifest» rufen sie Politik und Behörden sowie Entscheidungsträger zum Handeln auf. Am 2. Mai wurde das Manifest an einer Medienkonferenz in Bern lanciert. Initianten sind die Allianz Ernährung und Gesundheit, deren designierte Präsidentin Manuela Weichelt ist, und die Westschweizer Initiative «MAYbe less Sugar». Die SSO, die die Allianz Ernährung und Gesundheit unterstützt, trägt den allgemeinen Vorstoss für weniger Zucker in der Ernährung mit. Die Forderungen des Manifests reichen von Massnahmen zum Kinder- und Jugendschutz über Werbeeinschränkungen und Informationskampagnen bis hin zur flächendeckenden Einführung des Nutri-Scores, eine Lebensmittel- Kennzeichnung nach dem Ampelsystem.

Die Schweiz setzt auf Freiwilligkeit

Die wissenschaftlichen Fakten sind eindeutig. Ein hoher und häufiger Zuckerkonsum schädigt die Blutgefässe und erhöht dadurch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Dieser Effekt ist unabhängig vom Übergewicht. Wer schlank ist und meint, ein übermässiger Zuckerkonsum sei deshalb unproblematisch, irrt sich. Zu viel Zucker erhöht zudem das Risiko für eine nicht alkoholische Fettleber, Diabetes Typ 2 und Adipositas.

Aus diesen Gründen besteuern manche Länder stark zuckerhaltige Speisen und Getränke. Die Schweiz hingegen setzte bisher auf freiwillige Massnahmen: Die Erklärung von Mailand will vor allem versteckten Zucker reduzieren. Die Unternehmen, die sie unterzeichnen, verpflichten sich, den Zuckergehalt in Erfrischungsgetränken, Milchmischgetränken, Joghurt oder Frühstücksflocken schrittweise zu reduzieren.

Das genüge bei Weitem nicht, findet PD Dr. med. Bettina Wölnerhanssen, Leiterin der St. Clara Forschung AG, die das Zuckermanifest unterstützt. Denn der grösste Teil des Zuckers nehmen die Schweizerinnen und Schweizer aus Süssigkeiten und Süssgetränken zu sich.

Nun ist die Politik am Zug

Die Grenzen der freiwilligen Massnahmen seien erreicht, deshalb sei nun die Politik gefragt, so die Vertreterinnen und Vertreter der Allianz Ernährung und Gesundheit. Ein wichtiges Anliegen der Initianten des Zuckermanifests ist der Schutz der Gesundheit von Kindern. «In der Kindheit wird das Ernährungsverhalten für das weitere Leben geprägt. Je früher Kinder mit Zucker in Kontakt kommen, desto mehr entwickeln sie eine Präferenz für den süssen Geschmack», erklärt Manuela Weichelt. Das Problem ist: Es sind gar keine vollständig ungesüssten Kinderprodukte erhältlich. «Die in der Schweiz verkauften Getränke, die sich an Kinder richten, weisen im Durchschnitt sogar einen höheren Zuckergehalt auf als die Standardprodukte.» Die Nationalrätin fordert deshalb in einer Motion, dass vorgefertigten Babynahrungsmitteln und -tees künftig kein Zucker mehr zugesetzt wird.

Zwei weitere Vorstösse von Laurence Fehlmann Rielle (SP-Nationalrätin, GE) und Léonore Porchet (Grüne-Nationalrätin, VD) fordern zusätzliche Massnahmen, um den Zuckerkonsum zu verringern, sowie eine Untersuchung über den Einfluss von hoch verarbeiteten Lebensmitteln auf die Gesundheit, die Umwelt und die Landwirtschaft. «Wir haben die Pflicht, etwas zu unternehmen», stellt Laurence Fehlmann Rielle fest. Die Politikerinnen machen nicht nur selbst Vorstösse; sie erhoffen sich, dass bei der in den nächsten Jahren geplanten Revision des Lebensmittelgesetzes einige der Forderungen aus dem Zuckermanifest umgesetzt werden.

Auch die Zahnärztinnen und Zahnärzte haben eine Verantwortung

Die SSO ist Mitglied der Allianz Ernährung und Gesundheit seit deren Gründung im Jahr 2020. Dr. Christoph Senn, Vize-Präsident der SSO, vertritt die Schweizer Zahnärztinnen und Zahnärzte in der Arbeitsgruppe Zucker. «Zucker verursacht Karies und beeinträchtigt die Mundgesundheit. Dies wiederum hat einen negativen Einfluss auf den ganzen Organismus. Deshalb ist es nur natürlich, wenn wir Zahnärztinnen und Zahnärzte hier Verantwortung übernehmen und die gesunde Ernährung fördern», sagt Christoph Senn.

Die SSO und die Schweizer Zahnmedizin sind schon sehr lange in der Prävention aktiv. Einige Aktionen aus der Kariesprävention könnten für die Allianz Ernährung und Gesundheit sogar Modellcharakter haben, meint Senn. «Ich denke etwa an die Schulzahnpflege, die seit Ende der 1960er-Jahre sehr erfolgreich läuft und bewirkt hat, dass Karies bei Kindern um über 90 Prozent zurückgegangen ist. Oder das Zahnmännchen der Aktion Zahnfreundlich: Es ist ein Beispiel, wie Nahrungsmittel sehr einfach, aber informativ gekennzeichnet werden können – genau das soll auch der Nutri-Score erreichen.»