«Immer weniger Zahnärzte» – so lautete eine Schlagzeile in der «Gazette de Lausanne» vom 6. April 1964. In allen Landesteilen fehle es an Zahnärzten, ist dort zu lesen. Zurückzuführen sei das unter anderem auf das Bevölkerungswachstum und die zunehmende Lebenserwartung, so die Journalistin. Ein weiterer Grund für den Zahnärztemangel: Der Beruf sei – trotz der Aussicht auf ein gutes Auskommen – für junge Menschen, Männer wie auch Frauen, wenig attraktiv. Der Frauenanteil unter den Zahnärzten betrug 1964 neun Prozent.
Der damalige Präsident der Waadtländer SSO-Sektion nennt in dem Artikel weitere Gründe für den Zahnärztemangel: Der Beruf sei oft anstrengend und undankbar, es brauche sowohl manuelle als auch intellektuelle Fähigkeiten. Nicht zuletzt wirke das lange Studium abschreckend. Man müsse die Studiengänge für Zahnmedizin und für Medizin entflechten.
Unterschiede im Studium
Was hat es mit dieser Forderung auf sich? In den 1950er-Jahren überarbeiteten die Universitäten die Reglemente für die Prüfungen im Medizinstudium. Bis dahin waren die Anforderungen an Mediziner und Zahnmediziner nur in den ersten zwei Semestern die gleichen gewesen. Bei der zweiten Vorprüfung in Anatomie und Physiologie konnten die angehenden Zahnärzte selbst entscheiden, ob sie die volle Prüfung der Medizinstudenten ablegen wollten oder eine weniger umfangreiche Variante, das sogenannte kleine Propädeutikum. Die Fachvertreter für Zahnmedizin waren sich nicht einig, ob diese Möglichkeit beibehalten oder das Zahnmedizinstudium stärker ans Medizinstudium angeglichen werden sollte.
SSO wollte das Studium vereinfachen
Bei den Beratungen über die Prüfungsreglemente brachte auch die SSO ihre Meinung ein. Die Berufsorganisation sprach sich dafür aus, das vorklinische Zahnmedizinstudium zu vereinfachen. Sie erhoffte sich, so dem im Artikel geschilderten Zahnärztemangel entgegenzuwirken.
Die Politik sah ebenfalls Handlungsbedarf. 1961 setzte der Bundesrat eine Kommission für Nachwuchsfragen auf dem Gebiet der medizinischen Berufe ein. Eugen Dobler, Professor für Kronen- und Brückenprothetik in Zürich, machte in einem Bericht zuhanden dieser Kommission Vorschl.ge, um den Zahnärztemangel zu beheben. Sie wurden aber zu sp.t eingereicht, deshalb wurde letztlich nur das Medizinstudium reformiert.
Der Röstigraben der Zahnmedizin
Vor allem in der Westschweiz waren die Zahnmedizindozenten weiterhin dafür, den zahnmedizinischen und den medizinischen Studiengang so früh wie möglich zu entflechten. Je länger die gemeinsame Studienzeit dauert, desto weniger Studenten entscheiden sich für die Zahnmedizin, so die Befürchtung. Die Berner Dozenten hingegen waren der Meinung, Zahnmedizin- und Medizinstudenten sollten bis zum zweiten Propädeutikum zusammen studieren und dieselben Prüfungen absolvieren. Sie wollten vermeiden, dass die universit.re Zahnmedizin gegenüber der Medizin abgewertet wurde. Auch brauchten Zahnärzte, die später in der Forschung arbeiten wollten, diese Grundlagenfächer.
Reform wurde nicht umgesetzt
1966 fiel der Entscheid: Zahnmedizinstudenten sollten die zweite Vorprüfung nicht mehr mit den Medizinstudenten ablegen müssen. Umgesetzt wurde dieser Beschluss aber nicht. Denn dazu hätten die Universitäten separate Vorlesungen für die Zahnmedizinstudenten einrichten müssen. Aus Mangel an Lehrkräften und Unterrichtsräumen war das offenbar nicht möglich. Stattdessen wurde ein paar Jahre später das medizinische Grundstudium sowohl für Medizin- als auch für Zahnmedizinstudenten auf vier Semester verkürzt. Dazu wurde der Unterricht umgestellt und besser koordiniert. Das kleine Propädeutikum für Zahnmediziner wurde nicht mehr angeboten. Zahnärzte und Ärzte hatten somit die gleiche Grundlagenausbildung. Dafür wurde in einem späteren Schritt das klinische Zahnmedizinstudium um ein Semester verlängert. Begründet wurde dieser Schritt mit der Aufwertung der Parodontologie, der Kinder- und der Präventivzahnmedizin.
Quelle: Niklaus Ingold: Die Berner Zahnmedizin 1921–2021. Hrsg. v. den ZMK Bern. Stämpfli Verlag, Bern 2022.