Zehn Berufsverbände, darunter die SSO, haben vor einigen Wochen einen Verein gegründet mit dem Ziel, eine effiziente Digitalisierung im Gesundheitswesen zu fördern: die Interprofessionelle Arbeitsgemeinschaft (IPAG) eHealth. Ihre Mitgliederverbände sind überzeugt, dass die Leistungserbringer sich aktiv an der Entwicklung der künftigen Systeme beteiligen müssen. Nur dann können das elektronische Patientendossier sowie weitere Datenaustauschsysteme erfolgreich sein.
Digitalisierung hat geringe Priorität
Meldungen wie diese lassen vermuten, dass das Schweizer Gesundheitswesen im Vergleich zu anderen Ländern in Sachen Digitalisierung im Rückstand ist. In dieselbe Kerbe schlägt auch eine Studie des Winterthurer Instituts für Gesundheitsökonomie der ZHAW School of Management and Law, die im Herbst 2021 publiziert wurde. Der Digitalisierungsgrad des Schweizer Gesundheitswesens liege im internationalen Vergleich unter dem Durchschnitt – aber auch im Vergleich zu anderen Branchen innerhalb des Landes, so die Autoren. Ihr Bericht basiert auf einer Auswertung vorhandener Studien und auf einer Befragung von rund 20 Expertinnen und Experten. Wie die IPAG eHealth bemängelt auch die ZHAW-Studie die verzögerte Implementierung von digitalen Gesundheitsdiensten wie dem elektronischen Patientendossier. In der Telemedizin und im Bereich digitale Rezepte seien ebenfalls Digitalisierungslücken auszumachen. Die Ökonomen der ZHAW orten drei Gründe für den langsamen Fortschritt: den Mangel an Fachkräften, die regulatorischen Hürden und vor allem die eher geringe Priorität, die die Digitalisierung im Alltag vieler Gesundheitsinstitutionen bisher einnahm.
Das Potenzial wird nicht ausgeschöpft
Die Perspektive der ambulant behandelnden Ärztinnen und Ärzte zeigt der Digital Trends Survey der FMH. Diese regelmässige Erhebung ermittelt die Bedürfnisse sowie den subjektiv empfundenen Nutzen der Ärzteschaft und der Bevölkerung hinsichtlich neuer digitaler Gesundheitsanwendungen. Der Schwerpunkt der Befragung 2021 lag auf digitalen Gesundheitsanwendungen während der Behandlung. Dazu wurden 507 ambulant tätige Ärztinnen und Ärzte sowie 2096 Personen aus der Bevölkerung befragt. Fast alle der antwortenden Ärztinnen und Ärzte erachten es für die Schweizer Gesundheitsversorgung als wichtig, dass die digitalen Möglichkeiten genutzt werden. Nur ein Viertel glaubt aber, dass er das gegenwärtige Potenzial der digitalen Gesundheitsversorgung ausschöpfen.
Gefragt nach konkreten Anwendungen zeigt sich eine klare Grenze: Die ausschliesslich auf einer intelligenten Software basierte Diagnosestellung und Behandlung wird grösstenteils abgelehnt – und zwar sowohl von den Ärztinnen und Ärzten als auch von der Bevölkerung. Der Faktor Mensch sei wichtig für den Behandlungserfolg, so der Tenor. Als sinnvoll empfinden alle Befragten jedoch digitale Hilfsmittel in der Administration, etwa das Erfassen der persönlichen Angaben der Patientinnen und Patienten in einem digitalen Formular mithilfe eines durch die Arztpraxis bereitgestellten Tablets. 73 Prozent der Ärzteschaft setzen die elektronische Krankengeschichte ein. Den grössten Nutzen der Digitalisierung sehen Ärztinnen und Ärzte demnach vor allem dann, wenn administrative Prozesse vereinfacht werden.
Die Leistungserbringer bringen sich ein
Dass sich nun die grössten Berufsverbände aus dem Gesundheitswesen im Rahmen der IPAG eHealth aktiver bei der Entwicklung digitaler Systeme einbringen wollen, ist ein wichtiges Signal. Nur wenn auch die Leistungserbringer mitziehen, kommt die Digitalisierung des Schweizer Gesundheitswesens voran. In den vergangenen zwei Jahren hat die Corona-Pandemie der Digitalisierung zusätzlichen Schub verliehen. Die Krise zeigte die Schwierigkeiten, die in der Schweiz beim Datenaustausch zwischen den verschiedenen Akteuren bestehen, so ein Fazit der FMH aus ihrer Umfrage. Alle Befragten sehen hier Handlungsbedarf. Bei der Diskussion sollte man nicht vergessen, dass Digitalisierung oft sehr grosse Investitionen verlangt. Es ist deshalb nicht zu erwarten, dass die Entwicklung in kurzer Zeit grosse Sprünge macht, sondern vielmehr Schritt für Schritt vorangeht. Eine weitere Herausforderung ist die Verknüpfung bereits bestehender Digitalisierungsprojekte. Das ist nicht immer einfach. Wichtig ist vor allem, dass die Bedürfnisse der Patienten nicht vernachlässigt werden