Seit einigen Jahren investieren zunehmend branchenfremde Investoren in den Gesundheitssektor. Wurden bis vor wenigen Jahren vor allem Kliniken und Spitalgruppen aufgekauft, stehen nun immer häufiger (zahn-)medizinische Praxen und Versorgungszentren im Fokus. In Zeiten von anhaltenden Niedrigzinsen bietet ein solches Engagement einige ökonomische Vorteile: Medizin und Zahnmedizin sind ein stabiles Geschäft. Wer Zahnschmerzen hat, geht zum Zahnarzt, und zwar unabhängig von Konjunkturzyklen.
Zudem bietet die Branche gute Wachstumschancen, weil sie extrem fragmentiert ist: Bis vor wenigen Jahren gab es kaum grössere Zusammenschlüsse, die meisten Zahnärzte oder Hausärzte waren zugleich Eigentümer ihrer Praxis. Gleichzeitig ist es ein lohnenswertes Umfeld. Gemäss der «Handelszeitung» ist allein der Markt der Zahnmedizin in Westeuropa fast 80 Milliarden Franken schwer.

Rendite auf Kosten der Patientensicherheit?

Kein Wunder fühlen sich Investoren angesprochen. Verkäufer sind zumeist Praxisinhaber, die altershalber aus dem Beruf aussteigen wollen. Die Käufer sind international tätige Aktiengesellschaften und zunehmend auch Private-Equity-Gesellschaften. Aus den aufgekauften Einzelpraxen und Versorgungszentren werden Praxisketten gebildet, die unter einem gemeinsamen Namen am Markt auftreten. Einige beschäftigen mittlerweile bis zu 1000 Zahnärzte in mehreren Ländern.
Das Problem: Einige Private-Equity-Gesellschaften verfolgen grosse Renditeziele. Sie wollen das Kaufobjekt reorganisieren, den Unternehmenswert so steigern und die Firma nach durchschnittlich fünf oder sechs Jahren mit Gewinn weiterverkaufen. Dass bei diesem Vorgehen die Patientensicherheit zu kurz kommen kann, liegt auf der Hand.

Preisvorteile werden nicht immer ­weitergegeben

Als Vorteile der Zentren und Ketten wird oft die effiziente Organisation genannt: Zentren und Ketten lasteten Räume und Geräte besser aus, schrieben Investitionen schneller ab, und als Grossabnehmer han­delten sie beim Einkauf direkt mit den Dentalfirmen vorteilhafte Bedingungen aus. Allerdings werden diese Preisvorteile wohl nicht immer an die Patienten weitergegeben. Zudem ist der Koordinationsaufwand in solch grossen Strukturen nicht zu unterschätzen.
Ein Nachteil für die Patienten sind die möglicherweise wechselnden Behandler in einem medizinischen Zentrum mit unterschiedlichem Ausbildungshintergrund. Unter solchen Umständen wird es dem Patienten schwerfallen, ein gefestigtes Vertrauensverhältnis zu seinem Arzt oder seinem Zahnarzt aufzubauen.
Die Arbeitnehmer und vor allem die Arbeitnehmerinnen profitieren von flexibleren Arbeitsbedingungen: Ketten bieten die Möglichkeit, angestellt und Teilzeit zu arbeiten und so das Berufs- und Familienleben besser zu vereinbaren. Das Risiko und der finanzielle Aufwand, die für die Gründung einer Einzelpraxis nötig sind, entfallen. Die Kehrseite der Medaille: In manchen Fällen müssen die Arbeitnehmer rigid ausformulierte Verträge unterzeichnen, die sie unter anderem mit Umsatzvorgaben bei der Patientenbehandlung unter Druck setzen.

Erschreckende Berichte aus der EU

Der CED, der Dachverband der europäischen Zahn­ärzte, berichtete 2018 über unethische Praktiken in Betrieben von europäischen Dentalketten. Aus Spanien und aus Frankreich sind Fälle bekannt, in denen die angestellten Zahnärzte die gesetzlich vorgeschriebenen Ruhepausen und arbeitsfreien Zeiten nicht einhalten durften. Sie wurden unter Druck gesetzt, um bestimmte klinische Ziele zu erreichen, z. B. Quoten für gesetzte Implantate. Patienten wurden durch aggressive Marketingkampagnen getäuscht. Nach der Schliessung von Ketten aufgrund von finanziellem Fehlverhalten wurden sogar Behandlungen – obwohl bereits bezahlt – nicht zu Ende geführt. Eine Untersuchung der spanischen Zahnärztekammer über die eingereichten Patientenbeschwerden zeigte Erschreckendes: Rund die Hälfte ­aller Beschwerden zwischen 2013 und 2015 stammte von Patienten von Dentalketten, obwohl diese nur vier Prozent aller Zahnarztpraxen in Spanien ausmachen.
In der Schweiz sind solche Verfehlungen bisher noch nicht substanziiert belegt. Die SSO befürchtet aber, dass manche Dentalketten, die einem branchenfremden Investor gehören, unter Umständen dominant nach ökonomischen Kriterien und nicht zuerst im Interesse der Patienten geführt werden könnten. Dies würde klar den ethischen Grundsätzen der SSO widersprechen.

Soll der Staat eingreifen?

Der CED fordert Massnahmen, um dieser verhängnisvollen Entwicklung im europäischen Dentalmarkt entgegenzutreten. Unter anderem sollen in der EU nur Zahn­ärzte eine Dentalkette gründen und betreiben dürfen, und nur unter der Voraussetzung, dass sie selbst in diesem Betrieb arbeiten werden. Stellt sich die Frage: Ist staatliche Regulation tatsächlich eine sinnvolle Lösung in einem freiberuflichen Umfeld wie der Zahnmedizin, in dem liberale Arbeitsbedingungen geschätzt werden? Wo verläuft die Grenze zwischen nötiger Ökonomisierung und Verrat an der ärztlichen Verantwortung für das Patientenwohl?
Nach Ansicht des bekannten deutschen Medizinethikers Giovanni Maio ist ökonomisches Denken im Gesundheitswesen eine Notwendigkeit und liegt auch im Interesse der Prämien- und Steuerzahler. Die Ökonomisierung der Medizin werde dann zum Problem, wenn ihre Logik nicht nur auf Strukturen angewendet werde, sondern auf den Inhalt der Medizin selbst. Denn die Logik der Ökonomie könne dem ärztlichen Berufsethos widersprechen, etwa wenn bestimmte Patienten nicht behandelt würden, um Kosten zu sparen. Die Aufgabe, eine unangemessene Übertragung des ökonomischen Denkens auf die Medizin zu verhindern, kann nur der Arzt übernehmen. Der Patient muss sich sicher sein können, dass seine Bedürfnisse für den Behandler an oberster Stelle stehen.

Ein neuer Eid für junge Ärzte

Die Ärzte haben das Problem ebenfalls ­erkannt und versuchen gegenzusteuern: Initiiert vom Institut «Dialog Ethik» und unterstützt von verschiedenen Ärzteverbänden wurde ein neuer «Schweizer Eid» entwickelt, eine moderne Version der bisherigen Abwandlungen des hippokratischen Eids, auf den sich Ärzte seit der Antike beziehen. Neu geloben die Ärzte unter anderem: «[Ich instrumentalisiere die Patienten] weder zu Karriere- noch zu anderen Zwecken [...].» und «Ich wahre meine Integrität und nehme im Besonderen für die Zu- und Überweisung von Patientinnen und Patienten keine geldwerten Leistungen oder anders­artigen Vorteile entgegen und gehe keinen Vertrag ein, der mich zu Leistungsmengen oder -unterlassungen nötigt.» Im Sommer 2018 legten erstmals 40 Ärzte des Kantonsspitals Freiburg den neuen Eid ab.

Dieser Artikel entstand im Rahmen einer Kooperation zwischen SDJ und Politik+Patient, der gesundheitspolitischen Zeitschrift des Verbands deutschschweizerischer Ärztegesellschaften.