Herbert Bichsel kennt die Schwierigkeiten des Zahnarztbesuchs aus eigener Erfahrung. Er leidet an Multipler Sklerose und sitzt seit seinem 26. Lebensjahr im Rollstuhl. Für viele Menschen mit körperlichen Behinderungen beginnen die Probleme schon beim Weg zum Zahnarzt, so war es auch bei ihm. Seine frühere Zahnarztpraxis befand sich in der Innenstadt. Mit seinem umgebauten Auto einen genügend grossen Parkplatz zu finden, der ihm das Ein- und Ausladen des Rollstuhls ermöglicht, sei fast unmöglich gewesen. Ausserdem musste er in dem älteren Gebäude drei Treppenstufen überwinden. «Das ging, solange ich noch aufstehen und ein paar Schritte gehen konnte, während eine Begleitperson den Rollstuhl hinterhertrug», erzählt Bichsel. Irgendwann aber sah er sich gezwungen, eine neue, hindernisfreie Zahnarztpraxis zu suchen.

Die hindernisfreie Praxis

Die Liste der Anforderungen an eine hindernisfreie Praxis ist lang. Sie reicht von den Behindertenparkplätzen über den – taktilen – Zugangsweg, das Praxisschild und die Türklingel bis hin zu den sanitären Anlagen. Alle Vorgaben sind in einer umfangreichen Broschüre der Behindertenorganisation agile.ch aufgeführt. Herbert Bichsel hat eine Praxis gefunden, die ihm einen hindernisfreien Zugang weitgehend erlaubt. Tücken gebe es aber immer noch. So sei etwa die Zufahrtsrampe relativ steil. «An einem schlechten Tag habe ich nicht genügend Kraft, mich hochzuschieben», so Bichsel. Damit kann er sich aber arrangieren. «Ich rufe dann jeweils kurz in der Praxis an, damit mich jemand am Zugangsweg abholt.»

Willy Baumgartner, Zahnarzt und Past- Präsident der SSO-Fachgesellschaft Schweizerische Gesellschaft für Alters- und Special-Care-Zahnmedizin (SSGS), kennt diese speziellen Bedürfnisse und die damit einhergehenden Probleme. «Leider ist es nicht allen zahnmedizinischen Praxen möglich, die diversen Anforderungen an eine hindernisfreie Praxis zu erfüllen», sagt er. Gerade in älteren Gebäuden seien die Möglichkeiten beschränkt. Umso wichtiger sei es, dass neue Zahnarztpraxen von Anfang an so geplant werden, dass sie für alle zugänglich sind. «Das kommt überdies auch älteren Menschen zugute sowie solchen mit einer vorübergehenden Beeinträchtigung oder Eltern mit Kinderwagen.»

Alles beginnt mit der Mundhygiene

Die Herausforderungen zeigen sich aber auch bei der zahnmedizinischen Behandlung selbst. Das Hantieren mit Instrumenten im empfindlichen Mundraum ist vielen Menschen unangenehm. Gerade aber Patientinnen mit kognitiver Beeinträchtigung, die vielleicht den Sinn der Behandlung nicht erkennen, empfinden den Eingriff als bedrohlich. Dabei ist der Zahnarztbesuch bei ihnen besonders wichtig: Oft führt diese Patientengruppe die Mundhygiene nur ungenügend aus, was Nährboden schafft für Karies und parodontale Erkrankungen. Davon betroffen sind auch Patientinnen mit körperlichen Behinderungen, weil sie wegen ihrer eingeschränkten Motorik die Zahnpflege nicht ausreichend durchführen können. «Spätestens seit den 1970er-Jahren wissen wir, dass Menschen ihre eigenen Zähne immer länger behalten werden. Die Mundgesundheit ist massgebend dafür, wie gesund die Zähne und die Zahnumgebung bleiben», sagt Willy Baumgartner. Wie wichtig es ist, Zähne und Zahnzwischenräume richtig zu reinigen – wenn nötig mithilfe einer Drittperson –, müsse daher immer wieder betont werden.

Nur: Das ist manchmal leichter gesagt als getan. Das kennt auch Herbert Bichsel. Sein früherer Zahnarzt, erzählt er, hätte ihn bei jeder Konsultation erneut darauf hingewiesen, Zahnseide zu benutzen. Aufgrund seiner Krankheit ist er feinmotorisch jedoch stark eingeschränkt und nicht in der Lage, die präzisen Bewegungen mit der Zahnseide auszuführen. «Es war frustrierend», erinnert er sich. In der neuen Praxis schilderte er das Problem seiner Dentalhygienikerin. Daraufhin haben sie gemeinsam verschiedene Alternativen ausprobiert. Das dauerte seine Zeit, doch es hat sich gelohnt. Heute verwendet er einen Wasserspritzer mit Hochdruck. «Die Methode ist nicht gleich effizient wie das Reinigen der Zähne mit Zahnseide», sagt Bichsel. Die Mundhygiene habe sich bei ihm aber dennoch deutlich verbessert.

Triage bei Narkosepatientinnen

Immer wieder kommt es vor, dass Patientinnen nicht kooperieren können und sich der Behandlung verweigern. Das können Menschen mit Behinderung sein, aber auch generell Angstpatientinnen. Während zum Beispiel bei der Zahnsteinentfernung mit einer leichten Sedierung gearbeitet werden kann, ist bei schwereren Eingriffen die Narkose oft die einzige Option. Auch hier gilt: Nicht jede Praxis verfügt über die Voraussetzungen, Narkosen durchzuführen.

Abgesehen davon ist aber eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung gerade bei Menschen mit Behinderungen zentral. Herbert Bichsel empfiehlt, vor der Behandlung ein Gespräch mit der Person zu führen, um deren Bedürfnisse kennenzulernen. «Das ist ein einmaliger Aufwand, der sich aber auszahlt – und zwar für beide Seiten.» Aufgrund seiner Krankheit kann es vorkommen, dass er von einem Moment auf den anderen spastisch wird. Die Symptome sind unkontrollierbare Zuckungen und Muskelkontraktionen. «Die Praxismitarbeitenden wissen Bescheid, weil wir am Anfang darüber gesprochen haben. Dann wird die Behandlung kurz unterbrochen, ohne dass Hektik oder Panik aufkommt», so Bichsel.

Perspektivenwechsel zur Verständnisförderung

Herbert Bichsel ist im Vorstand von Sensability, einem Verein «von Menschen mit Behinderung für Menschen ohne Behinderung». Sensability setzt sich für die Rechte von Behinderten in allen Lebensbereichen ein, so auch in der Gesundheitsversorgung. Um die Zahnärzteschaft frühzeitig für das Thema Patienten mit Behinderungen zu sensibilisieren, führen die Zahnmedizinischen Kliniken (ZMK) mit Unterstützung von Sensability jährlich zwei Veranstaltungen für Studierende der Zahnmedizin durch. Im ersten Teil geht es um den Perspektivenwechsel; die angehenden Medizinerinnen setzen sich in ein einen Rollstuhl, tragen eine Dunkelbrille und einen weissen Stock oder einen Altersanzug. Damit müssen sie sich in den ZMK zurechtfinden. Unterstützt werden sie von Menschen mit Behinderung. «Diese Herangehensweise in Form eines Perspektivenwechsels ist sehr nachhaltig, weil sie das gegenseitige Verständnis fördert», so Bichsel. Im zweiten Kurs steht die Kommunikation im Zentrum. Hier geht es auch darum, Schranken und Hemmungen abzubauen. «Manchmal ergeben sich ganz lustige Situationen», sagt Bichsel. Und das dürfe auch so sein. Sensability führt zudem jährlich eine Veranstaltung für Zahnärztinnen mit eigener Praxis durch. Das Angebot werde genutzt – wenn auch in erster Linie von jenen, die bereits sensibilisiert sind. «Es wäre schön, wenn solche Schulungen noch grossflächiger stattfinden würden», sagt Bichsel.

Mobile Behandlungsangebote sind gefragt

Die Schweiz sei grundsätzlich auf einem guten Weg, was die zahnmedizinische Versorgung von Menschen mit Behinderungen angeht, meint Willy Baumgartner. Gerade im Bereich mobile Behandlung ist viel passiert. Bereits seit Mitte der 1990-Jahre gibt es das Angebot Mobident, ein Projekt des Zentrums für Zahnmedizin der Universität Zürich. Die mobile Zahnklinik bietet eine zahnmedizinische Versorgung für die Bewohnenden von Pflege- und Alterszentren sowie Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen vor Ort im Kanton Zürich an. Die Behandlung in ihrer vertrauten Umgebung hilft den Patientinnen unter anderem auch, Ängste vor der Zahnärztin oder dem Zahnarzt abzubauen.

Der Druck steigt

Die Schweiz hat den Standortvorteil, dass sie klein ist. Während in grossen Ländern Behandlungsqualität und technischer Fortschritt in den Städten und Provinzen häufig auseinanderklaffen, gibt es hierzulande kaum Unterschiede. «Grundsätzlich sollte die zahnmedizinische Versorgung in den kantonalen Gesundheitsgesetzen geregelt werden», findet Willy Baumgartner.

Herbert Bichsel sieht hier dringenden Handlungsbedarf. «Der Druck steigt», sagt er. Die Schweiz musste im vergangenen März gegenüber der UNO Rechenschaft ablegen über die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention, die hier seit 2015 rechtskräftig ist. «Wir haben nicht nur gute Noten erhalten», hält er fest. Zudem sei eine Volksinitiative am Anrollen. Diese fordert unter anderem, dass Menschen mit Behinderungen die personellen und technischen Ressourcen erhalten, um sich mittels Assistenz vollumfänglich und selbstbestimmt in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur einbringen zu können. Der gleichberechtigte Zugang zu Gesundheit ist eine Voraussetzung dafür.