Jean-Philippe Haesler, der römische Philosoph Seneca sagte: «Den guten Steuermann lernt man erst im Sturm kennen.» Wie haben Sie sich selbst als Steuermann im Sturm kennengelernt?
Ich erinnere mich an das erste Telefonat mit dem SSO-Generalsekretär Simon Gassmann, nachdem der Bundesrat den Lockdown verhängt hatte. Er sagte: Ab heute musst du explizit der Präsident sein und die Führung übernehmen. Zuvor hatte ich mich nicht als Chef der SSO wahrgenommen, sondern eher in der Rolle einer Lokomotive, die den Verband antreibt und lenkt. Nun hatte ich eine neue Rolle. Dafür musste ich meine Haltung ändern, Entscheidungen treffen und führen. Der Sturm hat mich also gezwungen, anders zu arbeiten und aufzutreten, als ich geplant hatte. Während sechs Wochen habe ich jeden Morgen Anweisungen gegeben, Besprechungen geführt und viele Entscheidungen getroffen, ohne die Meinungen des ganzen Zentralvorstands einzuholen. Mir blieb nur zu hoffen, dass es die richtigen Entscheidungen sind.
Wie erlebten Sie die Zeit des Lockdowns?
In der Praxis erging es mir so wie allen Zahnärzten: Während sechs Wochen war ich zwar täglich vor Ort, jedoch nur für Notfälle. Es beunruhigte mich, nicht zu wissen, wie lange dieser Zustand andauern würde. Wir mussten alle nicht dringenden Termine absagen. Das verärgerte viele Patienten und hatte natürlich wirtschaftliche Auswirkungen. Wie alle Kollegen fragte auch ich mich: Wie schaffe ich das? Ich möchte so eine Lockdown- Situation nicht noch einmal erleben müssen.
Und im Privaten?
Ich habe selten so viel gearbeitet wie in dieser Zeit. Ich bin jeweils um sechs Uhr morgens aufgestanden und schrieb teilweise bis elf Uhr abends E-Mails oder führte telefonische Besprechungen. Und das sieben Tage die Woche – da blieb wenig Zeit, mich um mein Privatleben zu kümmern. Ich hatte eine Rolle, eine Mission, auf die ich mich konzentrieren konnte. Und es war mir wichtig, dieser Rolle gerecht zu werden und meine Aufgabe bestmöglich zu erfüllen. Auch die Zusammenarbeit mit den Stabsstellen funktionierte hervorragend.
Die Zahnärzte waren unter den ersten Berufsgruppen, die den Normalbetrieb wieder aufnehmen konnten. Wie haben Sie das erreicht?
Wir haben schnell gemerkt, dass wir selbst aktiv werden müssen, wenn wir wieder behandeln wollen. Und das war zwingend nötig; einerseits, um die zahnärztliche Versorgung unserer Patienten und damit deren Gesundheit sicherzustellen, andererseits aus wirtschaftlichen Gründen. Also haben wir ein Schutzkonzept für die Zahnarztpraxis ausgearbeitet, noch bevor es von den Behörden gefordert wurde. Dank der grossartigen Arbeit von SSO-Vizepräsident Dr. Christoph Senn sowie von Prof. Andrea Mombelli von der Universität Genf waren wir erfolgreich. Wichtig war auch die Rückendeckung von der Vereinigung der Kantonszahnärztinnen und Kantonszahnärzte der Schweiz (VKZS).
Inwiefern konnte die SSO in dieser Situation weitere Interessen der Zahnärzte vertreten?
Zentral war das Anliegen bezüglich einer Entschädigung für den Erwerbsausfall für die Selbstständigerwerbenden, die im Covid-Entschädigungsregime durch die Maschen fallen. Dort sind wir noch immer dran. Ich habe zwei Briefe an den Bundesrat geschrieben – die allerdings bisher nicht direkt beantwortet wurden, unsere Regierung ist überlastet. Um wirklich etwas zu erreichen, muss man sich mit anderen Organisationen verbünden. Auch andere Berufsfelder sind auf Hilfe angewiesen. Deshalb arbeiten wir unter anderem mit dem Schweizerischen Verband freier Berufe zusammen, der von Ständerat Pirmin Bischof präsidiert wird. Einen Erfolg konnten wir bereits verbuchen: auch Selbstständigerwerbende erhalten die Erwerbsausfallentschädigung. Jedoch wurden die Einkommen auf der Bemessungsgrundlage zwischen 10’000 und 90’000 Franken limitiert, was wir nicht akzeptieren können. Daher wollen wir diese Ungleichbehandlung juristisch anfechten und haben bereits einen Pilotprozess lanciert. Das ist eine Frage des Prinzips.
Ist es für einen Unternehmer nicht gefährlich, sich auf die Hilfe des Staats zu verlassen? Müsste man nicht im Sinn der liberalen Berufsausübung und eines starken Unternehmertums die KMU stärken, sodass sie nicht von dieser Staatshilfe abhängig werden?
Es gab ja verschiedene Hilfsangebote: Die Kurzarbeit für Angestellte während des Lockdowns war aus meiner Sicht unumgänglich, um Entlassungen zu verhindern und Arbeitsplätze zu sichern. Man darf nicht unterschätzen, wie hoch die jährlichen Lohnkosten in einer Zahnarztpraxis sind. Sobald in den Praxen wieder regelmässig Patienten behandelt wurden, war die Gefahr von Entlassungen fürs Erste gebannt. Die Kurzarbeit war deshalb eine Notwendigkeit. Eine weitere Hilfe war das Bürgschaftsprogramm für Covid-Überbrückungskredite, um die Liquidität der Unternehmen zu sichern. Gerade junge Praxisinhaber ohne finanzielle Rücklagen waren darauf angewiesen. Aber Vorsicht: Die Kredite müssen zurückgezahlt werden. Dazu braucht es einen Plan. Man sollte damit keinesfalls bis zum letztmöglichen Zeitpunkt warten.
Das Coronavirus hat auch das Verbandsleben beeinflusst: Unter anderem konnte der SSO-Kongress nicht als Präsenzveranstaltungen durchgeführt werden. Hat diese Entwicklung auch positive Seiten?
Wir konnten unsere Flexibilität beweisen, indem wir das Format des Kongresses angepasst und einen sehr professionellen Online-Kongress organisiert haben. Es war schön zu sehen, dass sich viele Zahnmediziner trotz der virtuellen Durchführung für den Kongress interessierten. Den Kongress abzusagen war übrigens nie eine Option. Der andere SSO-Vizepräsident, Dr. Oliver Zeyer, der SSO-Generalsekretär Simon Gassmann, Monika Lang vom SSO-Kongresssekretariat und Prof. Andreas Filippi sowie sein Team der wissenschaftlichen Kongresskommission haben den Online-Kongress mit sehr viel Enthusiasmus umgesetzt. Es gab nie Zweifel, ob es klappt. Dennoch fehlte natürlich der soziale Austausch am Kongress, den viele Teilnehmende schätzen.
Was haben Sie aus der Krise gelernt?
Ich habe gemerkt, dass ich in der SSO von extrem kompetenten und engagierten Menschen umgeben bin. Ich habe auch bei mir selbst verborgene Ressourcen entdeckt, auf die ich zurückgreifen kann. Zudem konnte ich meine Organisationsfähigkeit verbessern. Es kam mir sehr entgegen, dass ich nicht nur bei der Behandlung von Patienten exakt und gewissenhaft bin, sondern auch bei allen anderen Arbeiten.
Glücklicherweise beschäftigte sich die SSO 2020 nicht nur mit der Pandemie: Zu Beginn Ihrer Präsidentschaft sagten Sie, Sie möchten den Kontakt zur FMH und zu den Behörden stärken. Ist Ihnen das gelungen?
Ja, zur FMH pflegen wir einen sehr guten Kontakt. Wir arbeiten zum Beispiel im Bereich E-Health zusammen. Ein Vertreter des SSO-Zentralvorstands ist in der entsprechenden Arbeitsgruppe der FMH. Gemeinsam haben wir ausserdem Dokumente zur Cybersicherheit in der Praxis erstellt. Ich selbst wurde kürzlich eingeladen, in der gesundheitspolitischen Kommission der FMH mitzuarbeiten, was mich sehr geehrt hat. Der Kontakt zur FMH öffnet uns viele Türen. Es ist meine feste Absicht, diesen Weg weiterzugehen und den Austausch zu intensivieren, wo immer dies sinnvoll ist.
Und wie gestaltet sich der Kontakt zu den Behörden?
Schwieriger als gedacht. Ich nehme regelmässig an politischen Veranstaltungen teil und halte Vorträge. Es ist wichtig, öffentlich präsent zu sein und Kontakte zu knüpfen. Die Politiker und Behördenvertreter interessieren sich für unsere Anliegen. Aber ich möchte erreichen, dass wir künftig noch stärker wahrgenommen werden.
Welche Projekte stehen im kommenden Jahr bei der SSO an?
Die grössten Projekte sind «Young Dentists», die Überarbeitung der SSO-Mitgliederkategorien und die Stärkung der Marke SSO.
Wie ist der Stand der Dinge bei «Young Dentists»?
Wir wollen das Projekt im Jahr 2021 weiter vorantreiben. Dank einer sehr engagierten Projektgruppe ist es uns bereits gelungen, besser auf die Bedürfnisse der jungen Zahnärztinnen und Zahnärzte einzugehen, beispielsweise mit der Öffnung der Stellenplattform SSO-Jobs, die für Stellensuchende jetzt gratis ist. Auch die Veranstaltung «Premier pas», die im Rahmen des SSO- Kongresses hätte stattfinden sollen, ist aus dieser Arbeitsgruppe hervorgegangen. Die jungen Zahnmediziner wünschten sich neue Kongressthemen und junge, dynamische Referenten und Referentinnen. Leider mussten wir diesen Event wegen der Coronapandemie absagen. Er wird aber nachgeholt. In diesem Bereich konnten wir unser Versprechen gegenüber den jungen Berufskolleginnen und -kollegen einhalten. Die Gruppe wird ihre Arbeit fortführen.
Wie weit ist die SSO bei der Überarbeitung der Mitgliederkategorien?
Die aktuellen Mitgliederkategorien basierten auf dem Kriterium, ob ein Mitglied unter eigener fachlicher Verantwortung arbeitet oder nicht. Die Informationen dazu wollten wir dem Medizinalberuferegister entnehmen. Aber die Register sind nicht immer aktuell, und die Angaben sind von Kanton zu Kanton so unterschiedlich, dass wir uns in den vergangenen Jahren zunehmend nicht mehr als objektiviertes Abgrenzungskriterium darauf abstützen konnten. Deshalb suchen wir ein neues System, das sich in der praktischen Umsetzung besser bewähren und von den Mitgliedern verstanden werden soll. Es ist noch immer eine Mehrheit der Zahnärztinnen und Zahnärzte in der Schweiz, die unter eigener fachlicher Verantwortung in einer eigenen Praxis arbeitet. Aber ein Wandel ist spürbar. Es gibt neue Formen von Angestellten- oder Beschäftigungsverhältnissen. Auf diese Veränderungen müssen wir reagieren. Wir möchten keine Mitglieder verlieren, nur weil sie für einige Zeit in einem Praxiszentrum oder in einer Gruppenpraxis arbeiten. Alle, wirklich alle Zahnärztinnen und Zahnärzte sollen die SSO als verlässlichen Partner erfahren, vom Studium bis zum Ende der beruflichen Laufbahn. Das ist eine Herausforderung.
Der Zentralvorstand will die Marke SSO stärken. Worum geht es dabei?
Richtig, wir haben zusammen mit Experten den Markenauftritt der SSO überprüft. Wenn wir die Menschen überzeugen wollen, dass die SSO wichtige Aufgaben übernimmt und dass sie ihren Mitgliedern viel bietet, müssen wir unseren Auftritt anpassen. Im Lauf dieses Prozesses haben wir uns ein paar grundlegende Fragen gestellt: Wer ist die SSO? Wer möchten wir sein? Und welche Grundwerte vertreten wir? Die ersten Ergebnisse wurden an der Präsidentenkonferenz im November präsentiert, ihre Einführung ist für das zweite Quartal 2021 vorgesehen. Ich freue mich sehr, nächstes Jahr an diesem Projekt zur Verjüngung der SSO weiterzuarbeiten.