Der Bundesrat will eine Zielvorgabe – sprich ein Globalbudget – in der medizinischen Versorgung einführen. Auch die CVP hat eine Initiative mit diesem Zweck lanciert. Wir kennen die Folgen solcher Projekte aus anderen Ländern: Das Kostenwachstum wird kaum gebremst; dafür nimmt das Arzt-Patienten-Verhältnis Schaden, es kommt zu Zwei-Klassen-Medizin, Rationierung und Wartezeiten. Was unternimmt die FMH in Sachen Public Affairs dagegen?

Wir haben schon einiges unternommen. Der Bundesrat publizierte im Oktober 2017 den Expertenbericht zum Kostendämpfungsprogramm. Schon tags darauf haben die FMH und weitere Akteure Stellung genommen: Das Globalbudget im Gesundheitswesen ist kein guter Weg, weil diese Massnahme zulasten der Patientenversorgung geht. Das war eine erste, sichtbare Aktion. Seither haben wir mit dem alten und dem neuen Parlament den Dialog gesucht, um über die Auswirkungen eines Globalbudgets auf die Qualität der Gesundheitsversorgung zu sprechen. Namentlich haben wir auch für die Gelegenheit gesorgt, mit Kennern des deutschen Gesundheitswesens über die Erfahrungen mit Budgets und Zielvorgaben zu sprechen. In Deutschland gibt es quartalsweise ein sogenanntes Regelleistungsvolumen. Am Ende eines Quartals müssen Ärzte, deren Volumen ausgeschöpft ist, ihren Patienten einen Termin im nächsten Quartal geben oder sie zu einem anderen Arzt schicken, der noch über Budget verfügt.

Wie würden Sie das Problem lösen, dass viele Haushalte die Last der Krankenkassenprämien kaum mehr stemmen können?

Es gibt ein Gegenprojekt zum Globalbudget, das bereits im parlamentarischen Prozess ist: die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (EFAS). Während das Globalbudget die Kosten deckeln will, setzt EFAS bei der Finanzierung an. PWC hat berechnet, dass allein die Verlagerung stationärer Leistungen in den ambulanten Bereich ein jährliches Sparpotenzial von etwa einer Milliarde Franken birgt, ohne dass die Patientin oder der Patient Nachteile erleidet, wie es beim Globalbudget der Fall wäre.

Die Gegner sagen, EFAS sei ein reines Umverteilen der Kosten.

Ausser den Kantonen gibt es kaum noch einen Akteur im Gesundheitswesen, der EFAS ablehnend gegenübersteht. Mehrheitlich besteht Konsens darüber, dass EFAS sinnvoll ist und Sparpotenzial hat. Und man ist sich einig, dass die ungleiche Finanzierung von stationären und ambulanten Leistungen Fehlanreize auslöst, die es zu eliminieren gilt.

Inwiefern beeinflusst die Covid-19-Pandemie die politischen Reformbestrebungen im Gesundheitswesen?

Die Pandemie hat das Bewusstsein für den Wert eines guten und funktionierenden Gesundheitswesens gestärkt. Es gab beispielsweise öffentlichen Applaus für das Gesundheitspersonal. Versorgungssicherheit ist zu einem neuen Stichwort im gesundheitspolitischen Vokabular geworden. Gemäss einer Befragung des Forschungsinstituts GFS Bern finden rund 90 Prozent der Bevölkerung, wir sollten die Eigenversorgung mit medizinischen Produkten verbessern. Die Bevölkerung konnte und kann in der Coronapandemie auch erstmals das Schweizer Gesundheitssystem direkt mit anderen Systemen vergleichen. Unser Gesundheitswesen hat den Härtetest bestanden: Es gab keine Triage, niemand musste zurückgewiesen werden; die Intensivstationen waren zwar ausgelastet, aber nicht überlastet. Die Pandemie hat uns also gezeigt, dass unser Gesundheitssystem gut funktioniert und dass dies nicht selbstverständlich ist.

Was können wir in Bezug auf die Kosten im Gesundheitssystem lernen?

Dass Überkapazitäten, die auf dem Prüfstand sind, in einer solchen Situation Sinn ergeben können. Aufgrund dieser Erfahrung könnte man die teilweise kolportierten «20 Prozent Luft im System» aus einer anderen Perspektive beurteilen. Ob diese Stimmungslage in der Bevölkerung Einfluss haben wird, wissen wir noch nicht.

Mit der Erklärung der «ausserordentlichen Lage» hat der Bund während der Pandemie das Zepter übernommen. Die Kantone forderten aber schon bald lautstark ihre Autonomie zurück. Stimmt die Einschätzung, dass seit einigen Jahren immer mehr Aufgaben im Gesundheitssystem an den Bund übertragen werden?

Der Versorgungsauftrag liegt immer noch bei den Kantonen, und das ist gut so. Die Kantone sind in der Lage, bevölkerungs- und patientengerecht zu agieren. Es ist jedoch eine Tendenz festzustellen, dass die Rolle des Bundes gestärkt werden soll. Das ist nicht im Sinn der FMH und auch nicht im Sinn einer bedürfnisgerechten Gesundheitspolitik.

Gesundheitspolitik ist sehr komplex. Sind die Parlamentarier Ihrer Ansicht nach genügend informiert, um gute Entscheidungen zu treffen?

Bei den letzten Wahlen ist das Parlament aussergewöhnlich stark erneuert worden, auch in der Gesundheitskommission sind viele neue Mitglieder. Diese müssen sich einarbeiten. Das benötigt Zeit. Und sie erhalten von verschiedenen Akteuren Informationen zu komplexen Fragestellungen, die sie zu gewichten versuchen. Teilweise ist in den Fraktionen eine strikte Arbeitsteilung zu erkennen: Ein Kommissionsmitglied bearbeitet die Gesundheitspolitik, das andere beschäftigt sich mit den Sozialwerken. Deshalb kann es vorkommen, dass das Wissen in diesen Fraktionen auf einzelne Personen konzentriert ist. Das kann unsere Arbeit positiv oder auch negativ beeinflussen. Aktuell ist die Arbeitsbelastung in der Gesundheitskommission sehr hoch. Das erschwert es, sich mit den Themen intensiv auseinanderzusetzen.

Es gäbe in unserem Milizparlament ja durchaus Expertinnen und Experten für die Gesundheitspolitik. Werden diese Parlamentarier in den entsprechenden Kommissionen eingesetzt?

Es ist eine Tendenz in den Fraktionen zu beobachten, dass sie es ungern sehen, wenn ihre Kommissionsmitglieder Mandate haben, die die Geschäfte der Kommission direkt tangieren.

Wie ist Ihr Eindruck vom neuen Parlament?

Etliche bekannte Gesundheitspolitiker sind seit 2019 nicht mehr im Parlament. Das ist mit Know-how-Verlust verbunden. Das ist namentlich spürbar in der Arbeit mit der Kommission. Wir haben es mit neuen Ideen und anderen Herangehensweisen zu tun.

Was wünschen Sie sich vom neuen Parlament in der Gesundheitspolitik?

Dass EFAS verabschiedet wird. Ausserdem wünscht sich die FMH, dass die politischen Entscheidungsträger erkennen, dass ein gut funktionierendes Gesundheitswesen nicht selbstverständlich ist mit Augenmass agieren müssen. Die Versorgungsqualität und die Versorgungssicherheit sind bei der Kostendämpfung immer auch mit einzubeziehen.

Wenn Sie freie Hand hätten, welche Korrekturen würden Sie am Schweizer Gesundheitssystem vornehmen?

Ich würde dort ansetzen, wo es Opportunitäten gibt. Eine solche Opportunität ist EFAS. Könnte man bei null anfangen, würde man die Infrastruktur der Gesundheitsversorgung anders bauen, als sie sich heute präsentiert. Immerhin haben wir die Möglichkeit, die bestehende Infrastruktur durch regionale oder interkantonale Zusammenarbeit neu zu gruppieren und sie auf die Tendenz zur ambulanten Versorgung auszurichten.

 

Zur Person
Bruno Henggi hat in Bern Geschichte studiert und unter anderem als Fraktionssekretär bei der FDP, als Journalist bei Schweizer Radio DRS sowie als Leiter Kommunikation beim früheren Baukonzern Batigroup gearbeitet. Während mehr als zehn Jahren war er für Interpharma, den Verband der forschenden Pharmaindustrie, tätig. Seit Mai 2019 ist er Public-Affairs-Verantwortlicher der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH.

Dieser Artikel entstand im Rahmen einer Kooperation zwischen SDJ und doc.be, der Mitgliederzeitschrift der Ärztegesellschaft des Kantons Bern.