Die Volksinitiative der CVP «Für tiefere Prämien – Kostenbremse im Gesundheitswesen», die Massnahmenpakete I und II des Bundesrats zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen, die Kommissionsmotion des Ständerats «Berücksichtigung der Mengenausweitung bei Tarifverhandlungen»: Mehrere aktuelle politische Vorlagen zielen auf die Deckelung der Gesundheitskosten ab. Das ist gefährlich. Ein Globalbudget schadet dem Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient und birgt die Gefahr einer Zweiklassenmedizin, wenn nur noch Privatversicherte zeitnah behandelt werden können. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der in der aktuellen Diskussion um die Gesundheitskosten eher selten angesprochen wird: Eine Versicherung – zu denen die obligatorische Krankenversicherung OKP zählt – zeichnet sich dadurch aus, dass bei Eintritt eines bestimmten Ereignisses die zugesicherte Leistung erbracht wird. Als Gegenleistung zahlt der Versicherte eine Prämie. Ein Globalbudget ist deshalb einer Versicherung «wesensfremd». Übertragen auf eine Hausratversicherung würde das nämlich bedeuten: Ab Oktober wird ein gestohlenes Fahrrad nicht mehr ersetzt– oder erst im ersten Quartal des Folgejahrs.
Ueli Kieser, Sie haben bei verschiedenen Gelegenheiten an öffentlichen Vorträgen ausgeführt, zwischen einem Globalbudget im Gesundheitswesen und Artikel 117 der Bundesverfassung bestehe ein Widerspruch. Letzterer verpflichtet den Bund, eine Krankenversicherung einzurichten, die sich eben dadurch auszeichnet, dass sie bei Eintritt eines bestimmten Ereignisses eine zuvor festgelegte Leistung erbringt. In diesem Sinn sei ein Globalbudget für eine Versicherung wesensfremd. Gibt es im politischen Prozess einen Mechanismus, der eine verfassungsrechtlich problematische Gesetzesänderung verhindern kann?
Nein – einen absolut wirksamen Mechanismus gibt es nicht. Das Bundesgericht ist an die Bundesgesetze gebunden, auch wenn sie gegen die Verfassung verstossen. Aber natürlich ist sich das Parlament seiner Verantwortung bewusst und achtet sehr darauf, bei der Gesetzgebung die verfassungsrechtlichen Vorgaben genau einzuhalten.
Warum kommt dieser wichtige Punkt in der politischen Diskussion um das Globalbudget im Gesundheitswesen so selten zur Sprache?
In der Krankenversicherung dominiert die Kostendiskussion sehr vieles. Und vielleicht ist die Bundesverfassung in der ganzen Diskussion zu weit weg. Es steht aber eben in der Bundesverfassung, dass wir in der Schweiz nicht ein «Versorgungssystem» haben – dort wären wohl Budgetgrenzen usw. zulässig. Artikel 117 der Bundesverfassung schreibt ein «Versicherungssystem» vor. Im Versicherungssystem ist der Leistungsanspruch zentral – wenn die Leistungen sehr viele Kosten verursachen, muss dieses Risiko von der Versicherung getragen werden. Im Versicherungssystem können die Kosten nur begrenzt werden, wenn die Leistungen begrenzt werden. Gleiche Leistungen zu betriebswirtschaftlich nicht mehr genügenden Vergütungen gibt es im Versicherungssystem eben nicht.
Angenommen, die Massnahmen zur Zielvorgabe für die Kostenentwicklung würden so umgesetzt, wie in den beiden Kostendämpfungspaketen des Bundesrats vorgeschlagen: Wäre es möglich, dass ein Patient, dessen Behandlung wegen des Globalbudgets verschoben wird, seinen Arzt oder ein Spital vor Gericht bringen kann?
Das ist nicht ausgeschlossen. Die Patientin oder der Patient könnte geltend machen, die nicht (mehr) erfolgte Behandlung verletze den Anspruch auf die Leistung. Anders ausgedrückt: Der Anspruch auf die Leistung bleibt erhalten, auch wenn sich wegen einer Kostendämpfungsmassnahme kein Arzt oder keine Ärztin mehr finden lässt, um die Leistung durchzuführen.
Was würde passieren, wenn das Budget ausgeschöpft ist, der Leistungsanspruch des Patienten jedoch nicht begrenzt werden darf?
Diese Situation ist vom Bundesgericht in vergleichbaren Fällen schon beurteilt worden. Das Bundesgericht hat festgelegt, dass die Leistung trotzdem beansprucht werden kann. Die Vertragspartner müssen dann den Tarifvertrag neu verhandeln und so gestalten, dass die Leistung effektiv erbracht wird. Ist eine tarifvertragliche Einigung nicht möglich, muss das Gericht die Leistungsvergütung festsetzen.
Gab oder gibt es eine vergleichbare Situation bei anderen (Sozial-)Versicherungen?
Es gibt einen Gerichtsentscheid zu den Hörgeräten bei der IV (BGE 130 V 163). Hier hat das Bundesgericht Folgendes ausgeführt: «Insbesondere die Anwendung der Höchstbeträge im Rahmen des vertraglich vorgesehenen Indikationenmodells darf deshalb nicht dazu führen, dass der versicherten Person ein Hörgerät vorenthalten wird, das sich auf Grund ihres besonderen invaliditätsbedingten Eingliederungsbedürfnisses als notwendig erweist. Massgebend bleibt stets der gesetzliche Anspruch auf Hörgeräteabgabe und damit das spezifische Eingliederungsbedürfnis der einzelnen versicherten Person, das mit der Hörgeräteversorgung befriedigt werden soll.»
Welche Rückmeldungen erhalten Sie, wenn Sie öffentlich über dieses Thema sprechen? Zum Beispiel von anderen Juristen oder von Politikern?
Das Thema ist noch wenig präsent. Allerdings habe ich von verschiedenen Seiten gehört, dass die aktuelle Diskussion um die Kostendämpfung in die falsche Richtung gehe.