1. Für den grössten Teil der Schweizer Bevölkerung sind die Gesundheitskosten kein Problem

Es gibt (und gab schon immer) in der Schweiz Menschen, denen die Gesundheitskosten Schwierigkeiten bereiten. Diese Menschen müssen weiterhin entlastet werden. Aber für sehr viele Schweizer Haushalte entspricht die angebliche «Kostenexplosion» schlicht nicht der Realität. Umfragen ergeben regelmässig, dass die Gesundheitskosten für die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer nicht weit oben auf der Rangliste der grössten Sorgen stehen. So erreichten «Gesundheitsfragen» im Jahr 2022 im viel zitierten Sorgenbarometer der Credit Suisse nur Platz sechs – hinter Themen wie dem Umweltschutz, der Altersvorsorge oder auch der Beziehung zu Europa. Ein genauerer Blick auf die Zahlen zeigt denn auch: Die Wachstumskurve der Durchschnittsprämie, die das BAG im Zusammenhang mit den steigenden Gesundheitskosten regelmässig zeigt, ist zweifelhaft. Sie bildet nicht den tatsächlichen Durchschnitt ab, sondern ist ein Modell, bei dem nicht die günstigsten Versicherungsoptionen gewählt werden. Wer sparen muss oder will, zahlt durch Optionen wie das Hausarztmodell Prämien, die deutlich tiefer sind. Prämienverbilligungen entlasten zusätzlich. Dazu kommt, was der Gesundheitsökonom Fridolin Marty schon seit Jahren betont: Vergleicht man das Kostenwachstum mit dem Bruttoinlandprodukt, so ergibt sich keine Schere – beide Kurven steigen parallel an.

2. Das Leistungswachstum im Gesundheitswesen ist grundsätzlich eine gute Sache

Der Gesundheitssektor ist eine Wachstumsbranche. Gründe dafür sind unter anderem der medizinisch-technische Fortschritt und die demografische Entwicklung – das heisst das Bevölkerungswachstum sowie die zunehmende Alterung unserer Gesellschaft. Es ist deshalb nur natürlich, dass auch die Gesundheitskosten steigen. Die Patientinnen und Patienten in der Schweiz erhalten dafür qualitativ hochwertige Behandlungen. Dank der gut ausgebauten Grundversicherung haben alle Zugang zu medizinischen Spitzenleistungen.

3. Die Qualität der Schweizer Gesundheitsversorgung ist hervorragend

Das Schweizer Gesundheitswesen ist Weltspitze, insbesondere wenn es um den Zugang und um die Qualität von Gesundheitsdienstleistungen geht. Das zeigt sich etwa daran, dass Krankheiten wie Tuberkulose, Durchfallerkrankungen, Tetanus, Gebärmutterhals- oder Hodenkrebs, die mit modernen Therapien gut behandelbar sind, in der Schweiz seltener zum Tod führen als in anderen Ländern. Die Lebenserwartung in der Schweiz ist eine der höchsten weltweit, und in internationalen Vergleichen ist das Schweizer Gesundheitswesen regelmässig auf den vorderen Rängen platziert. Nachholbedarf sehen Fachleute allerdings bei der Effizienz und der Digitalisierung.

4. Der Fachkräftemangel gefährdet die gesundheitliche Grundversorgung

Im Schweizer Gesundheitswesen fehlt das Personal. Fast alle Gesundheitsberufe sind betroffen – von den Ärztinnen und Ärzten, Pflegefachkräften, Ergotherapeutinnen und -therapeuten bis hin zu den medizinischen Praxisassistentinnen und -assistenten. Die Berufsverbände sind alarmiert. Studien und Umfragen zeigen, dass die Grundversorgung der Patienten in den meisten Landesteilen an ihre Grenzen gelangt. Und weil in der Schweiz generell zu wenig Medizinerinnen und Mediziner ausgebildet werden und die Babyboomergeneration ihre Praxistätigkeit in den nächsten zehn Jahren altershalber aufgibt, wird sich die Situation noch verschärfen.

Es gibt jedoch Ansätze für eine Lösung dieses Problems. So engagiert sich die FMH mit der Initiative «Praxisassistenz in der Hausarztmedizin» nach dem Berner Vorbild nun auch schweizweit dafür, dass die Weiterbildung in der Assistenzzeit teilweise in einer Hausarztpraxis absolviert werden kann.

Auch die Einführung des neuen Tarifsystems Tardoc würde die Grundversorgung aufwerten und attraktiver machen. Denn Tardoc bildet die ambulanten Leistungen in den Arztpraxen und Spitälern sachgerecht ab (siehe auch nächster Absatz).

5. Es gibt Sparpotenzial

Seit Jahren bringt sich die Ärzteschaft mit Vorschlägen politisch dazu ein, wie man die Gesundheitskosten senken könnte, ohne die Qualität der Versorgung zu gefährden. Aktuell besonders dringlich ist die Umstellung auf Tardoc. Ein sachdienlicher, zeitgemässer Tarif birgt gegenüber dem aus dem Jahr 2004 stammenden – also fast 20 Jahre alten (!) – Tarmed Sparpotenzial, weil er der medizinischen Entwicklung Rechnung trägt und zielgenaue Abrechnungen ermöglicht.

Erfahrungen in einzelnen Bereichen haben zudem gezeigt, dass das Prinzip «ambulant vor stationär» grosses Sparpotenzial birgt. So kostet die stationäre Versorgung eines Leistenbruchs im Durchschnitt insgesamt 4760 Franken, die ambulante dagegen nur 3032 Franken. Weil ambulante Leistungen aber aktuell komplett durch die Krankenkassen bezahlt werden, stationäre hingegen zu 55 Prozent über die Kantone finanziert sind, würde eine solche Verlagerung zu Prämienerhöhungen führen. Deshalb setzt sich die Ärzteschaft dafür ein, dass alle Leistungen – ambulant und stationär – einheitlich finanziert werden (EFAS).

6. Prävention tut not

Im Gegensatz zur hervorragenden Qualität unseres Gesundheitswesens hat die Schweiz in einem anderen Bereich Nachholbedarf: bei der Prävention. So erreichte sie etwa 2022 in der «Tobacco Control Scale» der Vereinigung der europäischen Krebsligen nur den zweitletzten Platz unter 38 Ländern. Die Skala misst die Bemühungen der Länder zur Bekämpfung des Rauchens. Tatsächlich rauchen in der Schweiz nach wie vor 27 Prozent der Bevölkerung, während dieser Anteil in Neuseeland oder Australien auf 15 Prozent gesenkt werden konnte.

Auch eine Zuckersteuer wird schon lange diskutiert, aber nicht umgesetzt – obwohl sie von der WHO empfohlen wird und chronische Krankheiten wie Diabetes und Adipositas in der Schweiz seit Jahren ansteigen. In Ländern wie Frankreich, die eine Zuckersteuer eingeführt haben, hat sich gezeigt, dass der Zuckerkonsum dadurch tatsächlich sinkt.

Die Einsparmöglichkeiten durch gute Prävention sind massiv. So ergab eine Studie («Gesundheitswirtschaft», HSH Nordbank, 2017) im Jahr 2017, dass in Deutschland schon nur durch mehr Prävention bei älteren Menschen jährlich rund zehn Milliarden Euro gespart würden.

7. Besser als politische Sparpakete wäre die Stärkung der Professionalität der Leistungserbringer

Die Schweizer Politik diskutiert zurzeit ökonomische Reformen für das Gesundheitswesen, beispielsweise die Einführung von Kostenzielen. Dabei wird aber häufig vergessen: Gesundheit ist kein Konsumgut, eine Ärztin ist keine Verkäuferin, und ein Patient ist kein Kunde. Was in der Marktwirtschaft funktioniert, gilt im Gesundheitswesen nur sehr beschränkt. Eine rein ökonomisch ausgerichtete Reform wie die Anwendung von Kostenzielen kann diesem Sektor niemals gerecht werden.

Besser wären Reformen, die den Patienten zugutekommen. Zum Beispiel, indem Ärztinnen und Ärzte in ihrer Professionalität gestärkt werden. Gemäss der Soziologin Marianne Rychner bedeute das: die professionelle Kultur ausbauen, etwa durch die Förderung von Aus- und Weiterbildung oder von regelmässigem gegenseitigem Austausch zwischen den medizinischen Fachpersonen. Das fördert die Qualität der Patientenbehandlung und verbessert die Fehlerkultur. Dies wiederum trägt dazu bei, das Kostenwachstum zu bremsen.

Dieser Artikel entstand im Rahmen einer Kooperation zwischen SDJ und doc.be, der Mitgliederzeitschrift der Ärztegesellschaft des Kantons Bern.