Wie können Reformen im Gesundheitswesen gelingen? Dies die Leitfrage am diesjährigen 5. Novemberkongress von Santésuisse, dem Verband der Krankenversicherer. Mit Zahlen fundiert legt der Politologe Claude Longchamp dar, dass sich im Gesundheitswesen ein «neuer Realismus» abzeichne. Gefragt seien heute pragmatische Zwischenschritte, um die Kosten in den Griff zu bekommen, ohne dabei radikal Leistungen zu reduzieren. Umgekehrt sei man sich mehr als früher bewusst, dass nicht einfach Leistungsausbau betrieben werden könne, ohne dass die Gesundheitskosten steigen. Ein Abbau von Leistungen im Gesundheitswesen sei nicht populär, Longchamp bezweifelt, dass solche «Reduktionsstrategien» erfolgreich sein können.

Zwei Werthaltungen

Im Bereich des Gesundheitswesens sind zwei grundlegende Werthaltungen der Bürger entscheidend, die sich im Abstimmungsverhalten manifestieren: Schweizerinnen und Schweizer haben, erstens, hohe Qualitätserwartungen. Diese Qualitätserwartungen müssen erfüllt werden, wer an ihnen rüttelt, verliert. Chancenlos sind demnach alle Bestrebungen, die einen Qualitätsabbau bei gleichbleibenden Kosten verfolgen. Wer politisch dieses Ziel verfolge, der werde verlieren. Der zweite Punkt: Die Quantität spielt halt doch eine grosse Rolle. Wir sind es gewohnt, auch quantitativ, also zum Beispiel bei der Hausärztedichte
oder im Spitalbereich, eine gute Gesundheitsversorgung zu haben.

Wahlen 2019

Wie hat sich die Gesundheitspolitik konkret auf die eidgenössischen Wahlen ausgewirkt? Die Gesundheitspolitik war vorrangig, aber nicht wahlentscheidend. Sie war kein überragendes Thema in den Medien, aber doch ein Thema, das die Bürgerinnen und Bürger beschäftigt hat. Die Nachricht von einem nur moderaten Prämienanstieg hat wohl zu einer weniger alarmistischen Haltung beigetragen. Weiter, so Claude Longchamp in seinem Referat, sei Lobbyismus umstrittener geworden. Longchamp benennt mehrere Fälle abgewählter Interessenvertreter, darunter den Santésuisse-Präsidenten Heinz Brand, der in Graubünden die Wiederwahl in den Nationalrat nicht geschafft hat.

Was kommt im Gesundheitswesen?

Auf lange Sicht hin betrachtet glaubt Longchamp, dass die Gesundheitspolitik an einer Schwelle steht. Die Versorgungsdichte sowie die Qualität seien hochzuhalten. Es gelte aber auch, die teils starke Prämienbelastung für Haushalte und Familien zu verringern. Als möglich erachtet er Effizienzsteigerungen. Hier sei, so Longchamp, kurzfristig die Lösung für mögliche Reformansätze zu finden. Longchamp glaubt nicht, dass der Staat – auch aus einem liberalen Staatsverständnis heraus – dabei der entscheidende Regulator sein kann. Wörtlich, so Longchamp: «Ein 80-Milliarden-Markt lässt sich nicht von der Politik steuern.» Selbst die Bürger können diese Rolle nicht wahrnehmen. Der entscheidende Treiber in der Gesundheitspolitik seien die Leistungserbringer. Skeptisch zeigt sich der Politikbeobachter auch gegenüber Volksinitiativen, wie sie im Wahljahr von Parteien rechts und links lanciert wurden. Volksinitiativen haben grundsätzlich den Ansatz, dass sie partikulare Probleme mit partikularen Lösungsansätzen verbinden. Es brauche aber gerade im Gesundheitswesen einen grösseren Konsens.