Gleich zwei aktuelle Trends im Gesundheitswesen diskutierten die Expertinnen und Experten an der diesjährigen Frühjahrs-Academy on Health Care Policy: Versorgungssicherheit und Kostenziele. Im Fokus stand die Frage: Wo bleiben der Patient und die Patientin?

Engpässe bei den Arzneimitteln

Bei der Versorgungssicherheit gibt der Medikamentenmarkt seit Längerem Anlass zur Sorge. Ein Bericht des Bundesamts für Gesundheit (BAG) vom Februar 2022 hält fest, dass die Versorgung mit Arzneimitteln in der Schweiz nicht mehr oder nur mit sehr grossem Mehraufwand sicher­gestellt werden könne. Und die Engpässe nehmen zu. Genaue Zahlen konnte aber keiner der Referierenden nennen. Denn es existiert derzeit keine nationale Datenbank, die einen systematischen Überblick gibt. Neben der Meldestelle für lebenswichtige Humanarzneimittel des Bundes gibt es noch die Datenbank drugshortage.ch. Letztere wurde von Enea Martinelli, Vizepräsident Pharmasuisse und Chefapotheker der Spitäler fmi AG, aufgebaut.

«Ohne Anreize funktioniert es nicht»

Die Ursachen für diese Medikamenten­engpässe sind komplex. Einer der Gründe sei der Preis- und Kostendruck, so die Vertreter der Pharmaindustrie. Regulatorische Anforderungen, Preisreduktionen oder Referenzpreissysteme würden Produkte unrentabel machen. In der Folge investierten die Unternehmen nicht mehr in das Medikament, oder sie zögen sich aus dem Land zurück, erklärte Christoph Stoller, der den Verband Medicines for Europe vertritt. Zwar werden in der EU noch Medikamente hergestellt, allerdings würden keine neuen Werke mehr gebaut. Ausserdem sei man auf die Wirkstoffe aus dem Ausland angewiesen. Nur 20 Prozent der Wirkstoffe, die in Europa für die Arzneimittelherstellung verwendet werden, werden hier produziert. «Ohne ökonomische Anreize funktioniert es nicht», betonte Stoller eindringlich.

Die unsichere Versorgung mit Arzneimitteln ist nicht nur in der Schweiz ein Problem. Die europäischen Länder sowie die EU haben jeweils eigene Strategien entwickelt, um Engpässe zu verhindern. In vielen Ländern ist eine umfassende Meldepflicht Standard, dies im Gegensatz zur Schweiz, wie Enea Martinelli bedauert. Die Schweiz hat immerhin kürzlich eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe eingesetzt. Sie soll die Massnahmen zur Verbesserung der Versorgungssituation im Lauf des Jahres 2022 prüfen.

Gefährden Kostenziele die Patienten­versorgung?

Das zweite Thema des Abends waren die Kostensteuerungssysteme in der Gesundheitspolitik. Mehrere Vorlagen werden zurzeit im Parlament diskutiert. Auch hier spielt die Versorgungssicherheit eine Rolle: Gedeckelte Gesundheitskosten durch Kostenziele gefährden die Versorgung der Patientinnen und Patienten. FMH-Präsidentin Yvonne Gilli betonte: «Bei den Kostenzielen geht es nicht um die Patienten. Es geht um Tarife, um Versicherer und Massnahmen, aber vor allem geht es um die Kosten.»

Anderer Meinung ist Thomas Christen, Vize-Direktor des BAG. Er sieht Kostenziele als eine Chance für das Gesundheitswesen. Gesundheitskosten und Prämien seien untrennbar verknüpft, sie stiegen parallel. Die Einführung von Kostenzielen mache sichtbar, welche Kostenerhöhungen medizinisch notwendig und welche ungerechtfertigt seien.

Auf dem Weg in die Planwirtschaft

Yvonne Gilli liess diese Argumente zugunsten der Kostenziele nicht gelten. Zwar seien die Krankenkassenprämien in den letzten 20 Jahren gestiegen – die durchschnittlichen Haushaltseinkommen aber noch stärker. Und um die Effizienz zu steigern und Überversorgung zu verhindern, gebe es deutlich geeignetere Massnahmen, zum Beispiel die Förderung der Qualitätsentwicklung, die Umsetzung des Tarifs Tardoc und die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen. Die Einführung von Zielvorgaben hingegen bedeute nichts anderes als eine Planwirtschaft in der Gesundheitsversorgung, so Yvonne Gilli. «Der Staat weiss besser, was nötig ist, als Ärzte und Patienten.» Letztere könnten «unter die Räder geraten», befürchtet die FMH-Präsidentin. Die Massnahmen des BAG förderten die Versorgungssicherheit der Patientinnen und Patienten jedenfalls nicht.

Dieser Artikel entstand im Rahmen einer Kooperation zwischen SDJ und doc.be, dem Magazin der Ärztegesellschaft des Kantons Bern.