Der 16. Kongress für Gesundheitsökonomie und Gesundheitswissenschaften & Zukunftsforum Gesundheit (SKGG) im Inselspital Bern stand unter dem Slogan «Gesundheitspolitik 2031: Der gesellschaftliche Wandel erfordert eine neue Gesundheitspolitik». Namhafte Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Medizin diskutierten vor grossem Fachpublikum über das Gesundheitssystem Schweiz. Auf innovative und visionäre Art und Weise will der SKGG so zur Reform des Gesundheitssystems Schweiz beitragen. Unter den Referenten war auch Prof. Carlo Knöpfel, der über Einflüsse des gesellschaftlichen Wandels auf die Sozial- und die Gesundheitspolitik sprach. Im Interview fasst er seine Thesen noch einmal zusammen.

Carlo Knöpfel, Sie untersuchen gesamtgesellschaftliche Entwicklungen wie Digitalisierung, demografische Verschiebungen oder Globalisierung und deren Einfluss auf die Schweizer Gesundheitspolitik. Welche Entwicklungen bereiten Ihnen besonders grosse Sorgen?

Globalisierung der Wirtschaft heisst heute, dass Unternehmen für jede einzelne Aktivität den optimalen Standort suchen. In diesem Standortwettbewerb ist der Sozialstaat exponiert. Offen wird darüber diskutiert, ob er einen Standortvorteil darstellt, weil er zur sozialen Sicherheit und Stabilität beiträgt, oder ob er ein Standortnachteil ist, weil er Unternehmen mit Kosten belastet, die deren Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen. Das Gesundheitswesen wird wesentlich über diesen Sozialstaat finanziert, also über Einkommenssteuern und Krankenkassenprämien. Diese Gelder fliessen nur, wenn die wirtschaftliche Basis nicht wegbricht und die Zahlungsbereitschaft der Bevölkerung erhalten bleibt. Gleichzeitig steht die Gesundheitspolitik vor Herausforderungen, die weit über das «Tagesgeschäft» hinausweisen. Da ist zum einen der demografische Wandel, der die Zahl der Hochbetagten massiv ansteigen lässt und den Mangel an Pflegepersonal verstärken wird. Zum anderen beruht das Gesundheitswesen auch ganz wesentlich auf Betreuungs- und Pflegeleistungen von Angehörigen, die in unbezahlter Care-Arbeit für ihre kranken, behinderten und älteren Familienmitglieder sorgen. Diese Familien werden kleiner, die Erwerbstätigkeit der Familienfrauen steigt, man lebt nicht mehr am gleichen Ort, die Bereitschaft zu dieser Sorgearbeit sinkt.

Wie würden Sie diesen Gefahren begegnen?

Die Gesundheitspolitik ist in dieser Situation in zweierlei Hinsicht gefordert. Sie muss die Legitimation des Gesundheitswesens immer wieder beweisen. Das geht nur, indem gezeigt wird, dass wir in der Schweiz tatsächlich das «beste Gesundheitswesen der Welt» haben, um ein Bonmot unseres Bundespräsidenten, als er noch für die Armee verantwortlich war, abzuwandeln. Dafür braucht es ein plausibles Qualitätssicherungssystem, das vom Wohl der Patienten und der Mitarbeitenden aus aufgebaut und gestaltet wird. Weiter braucht es eine Anerkennung und Abgeltung der bis heute unentgeltlich erbrachten Care-Arbeit. Dazu reichen ein paar Ferientage zusätzlich bei weitem nicht aus. Man stelle sich nur vor, was es bedeutet, wenn Frauen ihre Erwerbsarbeit zum Beispiel von 70 auf 50 Prozent Beschäftigungsgrad reduzieren, um die eigene Mutter zu betreuen und zu pflegen. Diese Frauen verzichten auf Lohn, auf Sozialversicherungsleistungen, sollten sie krank oder arbeitslos werden, und haben später auch noch eine tiefere Rente. Es ist zu bezweifeln, dass das Gesundheitswesen auf diese Form der Care-Arbeit auch in den nächsten Jahren bauen kann, wenn sich da nicht etwas ändert.

Gibt es auch gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, in denen Sie Chancen für eine positive Veränderung im Gesundheitswesen sehen?

Wir werden zu einer Gesellschaft des langen Lebens und zu einer Viergenerationengesellschaft. Das ist per se eine positive Entwicklung, zu der das Gesundheitswesen seinen Teil beiträgt. Die steigende Lebenserwartung bedeutet nun nicht, dass sich auch die Pflegebedürftigkeit der Menschen in gleichem Masse verlängert. Vielmehr wächst das Potenzial älterer, aber noch sehr aktiver Menschen, die nach der Pensionierung nach sinngebenden Aufgaben suchen. Hier kann das Gesundheitswesen Angebote machen, die die skizzierte prekäre Lage bei der Leistungserbringung etwas entspannen könnte. Dazu braucht es aber auch eine neue rechtliche Regelung der Betreuung im Alter und bei Invalidität.

Wie lautet Ihr Appell an die Akteure des Gesundheitswesens in der nächsten Legislatur? An die Räte, die Krankenversicherer, die Ärztinnen und Ärzte und nicht zuletzt an uns alle, die Patientinnen und Patienten?

Die Gesundheitspolitik ist auch Sozialpolitik wie die Sozialpolitik auch Gesundheitspolitik ist. Die Akteure der Gesundheitspolitik müssen sich verstärkt ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung bewusst werden. Schliesslich basiert das Gesundheitswesen auf Voraussetzungen, die es nicht selbst schaffen kann: die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und die Bereitschaft vieler zur informellen Care-Arbeit. Ins Konkrete gewendet: Wenn in der Wintersession auch der Ständerat die Motion zur Ausweitung der Ergänzungsleistungen auf das betreute Wohnen überweist, ist es am Bundesrat, hier rasch eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, welche das Anrecht auf Betreuung regelt, und zwar unabhängig von der jeweiligen Wohnform. So wird es möglich sein, älteren und hilfsbedürftigen Menschen ein würdevolles Leben zu ermöglichen und Einweisungen in stationäre Einrichtungen wenn nicht zu vermeiden, so doch zu verzögern.

Dieser Artikel ist ein Nachdruck aus doc.be 6/2019, der Zeitschrift der Ärztegesellschaft des Kantons Bern (Bekag). Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.